„Qui quondam Saulus Pauli vestigia pressit“, steht auf dem Grabstein geschrieben. Selbst wenn man des Lateinischen nicht mächtig ist, mag man ahnen, dass der Mensch, der hier begraben ist, vom Saulus zum Paulus wurde. Zumindest begab er sich auf den Weg der Wandlung, denn die wörtliche Übersetzung lautet: „Der einstmal als Saulus die Spur des Paulus betrat.“
Wenn jemand vom Saulus zum Paulus wird, dann heißt das sinnbildlich, dass sich ein schlechter Mensch in einen guten verwandelt hat: Saulus verfolgte vor rund 2000 Jahren die ersten Christen, brannte ihre Häuser nieder und zerstörte ihre Gemeinden. In seinem grauenhaften Tun wurde er der Bibel zufolge kurz vor Damaskus gestoppt, weil er durch einen Lichtblitz erblindete und in Damaskus nicht nur geheilt, sondern auch bekehrt wurde. „Aus Saulus wird Paulus, aus dem Büttel der römischen Herrschaft wird ein freier Christ“, schreibt Carsten Splitt in der „Evangelischen Zeitung“. Wie kein Zweiter stehe Paulus „für die ganze Bandbreite menschlicher Existenz: für Schuld und Sühne, für Gnade und Erlösung, für Bekehrung und Zuversicht“.
Grabstein ist auch ein Sinnbild für die religiöse Zerrissenheit Daumers
Dieser Wandel muss im Leben des Mannes, der hier begraben liegt, eine große Rolle gespielt haben, wenn es sogar auf seinem Grabstein geschrieben steht. Georg Friedrich Daumer, der übrigens der Ziehvater Kaspar Hausers war, verbrachte sein Leben mit der Suche nach der richtigen, der wahren Religion. Er war einerseits tief religiös. Andererseits gab es Zeiten, in denen er das Christentum und sogar Jesus Christus scharf verurteilte, sich von ihm abwandte. Und am Ende seines Lebens wurde er Katholik. Ja, wenn man sich eine Weile lang eingehend mit Georg Friedrich Daumer beschäftigt hat, begreift man, wie gut der Spruch auf dem Grab zu ihm passt und dass er davon kündet, welchem religiösen Wandel er sein Leben lang unterworfen war. Vor allem, weil eben nicht dort steht, dass er vom Saulus zum Paulus wurde. Sondern dass er als Saulus die Spur des Paulus lediglich „betreten“ hat.
„Das ist genau der Punkt, an dem man als Journalist hellhörig wird“, sagt Torsten Schleicher, Leiter der Main-Post-Lokalredaktion Würzburg. „Mich haben in meiner journalistischen Arbeit immer wieder Menschen interessiert, die gesucht und auch gezweifelt haben. Spannend bei Daumer ist seine Auseinandersetzung mit der Religion. Das ist ein Thema, das an Aktualität wahrlich nichts eingebüßt hat.“
Eine Krankheit bewirkte auch einen Wandel in der Haltung zum Christentum
Daumer, der 1817 sein Theologiestudium an der Universität Erlangen begann, befasste sich schon früh mit dem Christentum – „auf eine, um es vorsichtig zu formulieren, nicht ganz konventionelle Weise“, wie Schleicher sagt. Er wurde Mitglied eines religiösen Studentenzirkels, den der Philosoph Ludwig Feuerbach als „pietistische Mistpfütze“ bezeichnete und dessen Mitglieder teilweise dem Wahnsinn anheimfielen – einer starb zum Beispiel an den Folgen der Selbstkastration, ein weiterer nahm sich das Leben und auch Daumer sehnte sich nach dem Tod: Neun Tage fastete er, um zu sterben, allein, es gelang nicht.
Daumer sah dann auch ein, dass er vielleicht doch auf dem falschen Weg ist, brach das Studium ab, zog nach Leipzig und studierte dort fortan Philologie, er wurde Lehrer. Als solcher hatte er – und hier ergibt sich ein erster, wenn auch zufälliger Bezug zu Saulus – ein Augenleiden, durch das sich auch ein Wandel vollzog: Er wurde nämlich 1830 Pensionär und spätestens jetzt setzte auch der erste Wandel religiöser Art ein.
Kaspar Hauser wurde Pflegekind bei Georg Friedrich Daumer
Noch ganz unter dem Eindruck der Erlangener Erlebnisse stehend, verfasste Daumer Schriften, in denen er mit dem Christentum – vor allem dem protestantisch- pietistischen – abrechnete. Zuvor aber trat ein Mensch in sein Leben, dessen Ziehvater er wurde und der große Berühmtheit erlangen sollte: Kaspar Hauser. Nachdem der 16-Jährige in Nürnberg unter mysteriösen Umständen aufgefunden worden war, gab man ihn Daumer zur Pflege: Der Lehrer brachte ihm das Sprechen bei, förderte ihn musisch, machte aber auch esoterische und pädagogische Experimente mit dem Jungen.
Und dann wurde Kaspar Hauser am 17. Oktober 1828 in Daumers Wohnung Opfer eines mysteriösen Attentats, weshalb man ihn hier nicht mehr sicher wähnte und zu einer Familie brachte. Retten konnte ihn das nicht, er starb 1833 im Alter von 21 Jahren – er sei erstochen worden, wurde immer wieder tradiert. Möglicherweise wegen seiner Herkunft, bei dem jungen Mann soll es sich um den Erbprinzen von Baden gehandelt haben. Heute gilt diese These als eher unwahrscheinlich, und auch der Karlsruher Nervenarzt Günter Hesse, der zu Hauser ein Buch geschrieben hat, hält davon gar nichts. Seiner Ansicht nach war Kaspar Hauser mitnichten ein Erbprinz, sondern der an einer Hirn- und Hautkrankheit leidende Sohn eines Pfarrers aus Tirol, der ihn aufgrund seiner Krankheit fortschickte. Und er sei auch nicht ermordet worden, sondern habe sich selbst mit einem Dolch verletzt, weil er die Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte, habe daraufhin aber einen Krampfanfall bekommen, der tödlich endete.
Welche Variante nun auch immer stimmt – „Daumer hat sich in seiner Zeit eigentlich wie ein guter Journalist verhalten“, sagt Torsten Schleicher. „Die rätselhafte Geschichte seines Ziehsohns ließ ihn nicht los, er recherchierte sorgfältig und verfasste vier Werke über Hauser.“
Aus der Polemik gegen die protestantische Theologie wurde eine Bibelkritik
Und noch ganz andere Bücher brachte der Lehrer heraus: Solche nämlich, in denen er eben mit dem Christentum abrechnet. Unter anderem tut er das in dem 1847 erschienenen Buch "Die Geheimnisse des christlichen Alterthums". Er deutet das Wort von Jesus Christus „Lasset die Kindlein zu mir kommen“ so, dass die Christen lange Zeit – über die Frühe Neuzeit hinaus – Kinderopfer dargebracht hätten. Valentin Veit schreibt im Jahr 1876 in der "Allgemeinen Deutschen Biographie": „D.s sich ständig verschärfende Polemik gegen die protestantische Theologie weitete sich in den folgenden Jahren zur Bibelkritik aus.“
Später wandte sich Daumer dann aber wieder dem Christentum zu, 1859 trat er im Mainzer Dom zum Katholizismus über, 1860 zog er nach Würzburg, wo er mit offenen Armen empfangen wurde. Kurz vor seinem Umzug in die Stadt am Main schrieb er: „Im Herbst werde ich nach Würzburg übersiedeln. Ich muß mich ganz und gar in eine katholische Bevölkerung hinein verstecken, denn ich werde fortwährend scheußlich verfolgt. Ich soll durchaus vernichtet werden; diesem Gesindel aber zum Opfer zu fallen, habe ich keine Lust.“
Zum Opfer fiel Daumer letztendlich einem Schlaganfall. Er starb er im Dezember 1875 in einem Häuschen vor dem Pleichertor und wurde auf dem Hauptfriedhof beigesetzt, wo die Inschrift auf seinem Grabstein davon kündet, dass sein Wandel vom Saulus zum Paulus zumindest begonnen hatte. „Die verrätselte Inschrift auf Daumers Grabstein und seine Biografie zeigen, dass es sich immer lohnt, genau hinzuschauen. Hinter einem Satz kann ein ganzes Leben stecken“, bilanziert Torsten Schleicher. „Das gilt nicht nur für den Umgang mit historischen Begebenheiten, sondern ganz genauso für die Nachrichten unserer Zeit. Wer nur die Überschriften liest, wird sich nicht wirklich zurechtfinden und sich auch keine fundierte Meinung bilden können.“
Text: Eva-Maria Bast
Der Text stammt aus dem Buch „Würzburger Geheimnisse - Band 2“ von Eva-Maria Bast, das in Kooperation mit der Main-Post entstand und soeben erschienen ist. Das Buch enthält 50 Geschichten zu historischen Geschehnissen und Orten. Präsentiert werden die Begebenheiten jeweils von Würzburger Bürgern.