Kommt ein Baby zu früh auf die Welt, beginnt für die Eltern eine nervenaufreibende Zeit. Das Leben des Kindes hängt oft am seidenen Faden. „Das Gehirn ist ein Organ, das sich in der Zeit zwischen der 22. und der 40. Woche immens entwickelt“, sagt Professor Dr. Christian Speer, Direktor der Würzburger Universitäts-Kinderklinik. Doch auch andere Organe wie die Lunge sind noch nicht vollständig ausgereift.
Dass die meisten dieser Kinder, die ab der 24. Woche das Licht der Welt erblicken, mittlerweile nicht nur gute Chancen haben zu überleben, sondern auch völlig gesund zu werden, liegt an den riesigen Fortschritten, die die Neonatologie (Früh- und Neugeborenenmedizin) in den vergangenen 20 Jahren gemacht hat. Ein Impuls für diese Fortschritte weltweit geht dabei von Würzburg aus.
700 Früh- und Neugeborenenmediziner in Würzburg erwartet
In der Domstadt findet in diesen Tagen zum achten Mal die größte Veranstaltung zur Früh- und Neugeborenenmedizin außerhalb der USA statt. Vom 8. bis 10. Oktober werden Mediziner aus 73 Nationen - von zahlreichen Ländern Europas, über die USA, Australien, Kanada bis hin zu China, der Türkei, Indonesien, Saudi-Arabien, Costa Rica und sogar einigen afrikanischen Ländern - im Congress Centrum erwartet.
Rund 700 Teilnehmer tauschen sich über die neuesten Behandlungskonzepte und die Grenzen der Früh- und Neugeborenenmedizin aus.
Die wissenschaftliche Leitung liegt beim Direktor der Würzburger Universitäts-Kinderklinik Christian Speer. Er war es auch, der das Symposium vor 21 Jahren – damals noch in Tübingen – mit dem Ziel ins Leben rief: alle drei Jahre Spezialisten aus sämtlichen Erdteilen zusammenzubringen, damit alle auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand sind. Mittlerweile werden in Würzburg medizinische Empfehlungen definiert, von denen Babys auf der ganzen Welt profitieren.
Das Würzburger Symposium unterscheidet sich dabei von anderen Medizinkongressen. „Hier laufen keine zig Parallelveranstaltungen“, sagt Speer. Alle 700 Neonatologen sitzen, stehen, diskutieren und essen fast drei Tage lang gemeinsam. Sie hören alle das Gleiche: Vorträge von 62 führenden Medizinern auf dem Gebiet der Neugeborenenmedizin. Sie sehen die Reaktionen der anderen Teilnehmer. Sie entwickeln in Workshops aus den individuellen Erfahrungen ihrer Heimatländer teils neue Ideen. Und sie tragen das gesammelte Wissen als Multiplikatoren in ihre Länder zurück.
„Weniger ist häufig mehr“ (Professor Speer)
Inhaltlich dreht sich bei dem Kongress vieles um die ersten Minuten im Leben eines Früh- und Neugeborenen. Wie erkennen Ärzte zu diesem Zeitpunkt, dass ein Organ lebensbedrohlich erkrankt ist? Wie können sie ihren winzigen, empfindlichen Patienten so versorgen, dass er überlebt, aber keine Folgeschäden von der Therapie davonträgt?
Zwei Beispiele: Früher hat man Frühgeborenen mit einer chronischen Lungenerkrankung oft über Wochen Cortison verabreicht. Doch spätestens seit dem Würzburger Symposium 2002 wissen die Ärzte, dass die Therapie sehr gefährlich ist, da sie zu bleibenden Hirnschäden führen kann. Auch Sauerstoff darf keinesfalls zu viel verabreicht werden, denn sonst steigt das Risiko einer bleibenden Netzhautschädigung und damit Erblindung der Kinder. „Weniger ist häufig mehr“, könnte man deshalb die langjährige Erkenntnis der Neonatologen beschreiben.
Die Frage, um die sich deshalb alles dreht, lautet: „Kann man den Kindern mit weniger medizinischer Unterstützung vielleicht genauso gut helfen und dennoch sicherstellen, dass sie gesund überleben?“ Denn: Heute wissen die Ärzte, dass jedes Kind, das über eine längere Zeit intensivmedizinisch behandelt wird, ein höheres Risiko hat, sich zudem eine Krankenhausinfektion einzufangen. Je länger Babys Antibiotika erhalten, desto anfälliger werden sie für problematische Keime.
Gleiches gilt für die künstliche Ernährung, die daher von möglichst kurzer Dauer sein sollte. „Die Amerikaner brauchen fast vier Wochen, um ein Frühgeborenes mit Milch zu ernähren. Wir haben in der Regel nach acht Tagen dieses Ziel erreicht“, so Speer. Er unterstreicht damit, wie wichtig es ist, dass das Baby möglichst schnell seinen Magen-Darm-Trakt einzusetzen lernt. „Dadurch sinkt das Risiko einer Infektion, an der weltweit immer noch jedes vierte, sehr unreife Frühgeborene erkrankt.“ In Deutschland ist es etwa jedes zehnte.
Von der Känguru-Methode bis zur Muttermilch
Von einigen Erkenntnissen könnten sowohl hoch technisierte Länder wie Deutschland, aber auch ärmere Staaten profitieren. „Beispielsweise weiß man heute, wie wichtig die Nähe der Mutter ist“, so Speer. Der Mediziner berichtet von der Känguru-Methode, bei der die Mütter bis zu 23 Stunden am Tag mit ihrem Frühgeborenen im Bett verbringen. In Kapstadt (Südafrika) besuchte er „eine Station mit 60 Müttern, die alle kleinste Frühgeborene auf der Brust liegen hatten. Sie stehen nur zu den eigenen Mahlzeiten auf oder um zu duschen. Das war unglaublich eindrucksvoll.“
Ferner gebe es immer mehr Daten, die darauf hinweisen, wie wichtig die Muttermilch sei, so Speer. Die Ärzte versuchen daher, Mütter von Frühgeborenen zu überzeugen, ihre Milch so lange abzupumpen, bis die Kinder eigenständig trinken können. Auch das Zusammensein der Familie in der Klinik sei immens wichtig. Dies sei für viele chinesische Ärzte etwas völlig Neues, da Eltern in China die Frühgeborenen-Intensivstation eines Krankenhauses überhaupt nicht betreten dürften.
Aber auch Deutschland habe in dieser Hinsicht Nachholbedarf. „In den skandinavischen Ländern wird viel Wert darauf gelegt, dass die Familie mit dem Frühgeborenen Zeit verbringt“, sagt Speer. Er freut sich daher, dass im Zuge der Erweiterung der Würzburger Universitätsklinik (wir berichteten) ein neues Mutter-Kind-Zentrum geplant ist.