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Würzburg
"Der Hass ist salonfähig geworden": So geht es jungen Jüdinnen in Würzburg ein Jahr nach dem Hamas-Überfall
Sie sind lebensfroh - aber haben Angst, ihre Herkunft offen zu zeigen. Was Chiara, Nicole und Rachel beschäftigt, was sie am Schabbat machen - und was in der Pizzeria.
Drei junge Jüdinnen, die in Würzburg leben: Im Gespräch berichten sie, welchen Anfeindungen und Stereotypen sie ausgesetzt sind - und wie es ihnen ein Jahr nach dem Hamas-Überfall geht.
Foto: Daniel Biscan | Drei junge Jüdinnen, die in Würzburg leben: Im Gespräch berichten sie, welchen Anfeindungen und Stereotypen sie ausgesetzt sind - und wie es ihnen ein Jahr nach dem Hamas-Überfall geht.
Michael Czygan
 |  aktualisiert: 08.10.2024 02:46 Uhr

Judenfeindlichkeit gab es immer schon in Deutschland. Doch seit dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und dem Krieg in Nahost ist jüdisches Leben in Deutschland gefährdet wie lange nicht mehr. Die Zahl antisemitischer Straftaten steigt, Vorbehalte gegen jüdische Menschen gewinnen mehr und mehr Raum.

Was macht das mit den Betroffenen? Drei junge Jüdinnen aus Würzburg berichten offen über ihre Erfahrungen, Sorgen und Wünsche. Voraussetzung für das Gespräch mit dieser Redaktion war, dass Chiara (28), Rachel (24) und Nicole (21) nicht komplett erkennbar werden.

Mit Rücksicht auf Ihre Sicherheit haben Sie darum gebeten, hier nur Ihre Vornamen zu nennen und Sie nur von hinten zu fotografieren. Was sind Ihre Sorgen?

Nicole: Ich habe mir an der Uni einen Freundes- und Bekanntenkreis aufgebaut, in dem nicht alle wissen, dass ich jüdisch bin. Ich wünsche mir, dass das so bleibt. Ich will mich nicht dauernd erklären müssen.

Chiara: Ich bin auch viel an der Uni, lerne in der Bibliothek und schreibe an meiner Doktorarbeit zum Thema Mehrsprachigkeit. Es gibt hier immer wieder antisemitische Schmierereien, auch in den Uni-Toiletten. Da denke ich, es ist besser, wenn nicht jeder meine jüdische Herkunft kennt.

Rachel: Ich bin im August 2023 aus Israel zum Studium an der Musikhochschule gekommen. Einen Monat später war der Hamas-Überfall. Die jüdische Gemeinde hier ist mein zweites Zuhause, ein sicherer Ort, wo ich auch Menschen treffe, mit denen ich in meiner Muttersprache Hebräisch reden kann. Ich vermisse gerade in dieser Zeit meine Familie und Freunde in Israel.

Chiara und Nicole, wie sind Sie nach Würzburg gekommen?

Chiara: Ich stamme aus der Stuttgarter Gegend und bin nach Würzburg gezogen, weil mein Partner, ein Israeli, hier studiert. Zusammen organisieren wir seit dem 7. Oktober sogenannte Schabbat-Dinner. Das sind Treffen, um Neuankömmlinge, darunter Israelis, in die jüdische Gemeinde zu integrieren. So habe ich auch Rachel kennengelernt. Wir Jüdinnen und Juden müssen uns gegenseitig unterstützen, gerade auch diejenigen, denen es nicht so gut geht, weil sie Angehörige und Freunde haben, die von Terror und Krieg direkt betroffen sind.

Nicole: Ich komme aus Augsburg und studiere seit drei Jahren in Würzburg Sonderpädagogik. Dank der jüdischen Gemeinde habe ich hier schnell Fuß gefasst und meine besten Freunde gefunden. Mit Chiara zusammen bin ich hier in der Jugendarbeit tätig. Wir engagieren uns bei "Meet a jew", einem Begegnungsprogramm, bei dem junge Jüdinnen und Juden Schulklassen oder Vereine besuchen, um aus ihrem Alltag zu erzählen.

Wie hat sich das Leben seit dem 7. Oktober 2023 verändert? Main-Post-Redakteur Michael Czygan beim Gespräch mit den Würzburger Jüdinnen Chiara, Rachel und Nicole. 
Foto: Daniel Biscan | Wie hat sich das Leben seit dem 7. Oktober 2023 verändert? Main-Post-Redakteur Michael Czygan beim Gespräch mit den Würzburger Jüdinnen Chiara, Rachel und Nicole. 
Tragen Sie Symbole wie eine Davidstern-Kette, die Sie als Jüdinnen erkennen lassen?

Nicole: Ich trage eine Kette mit einem Davidstern, den man nicht auf den ersten Blick als solchen erkennt. Das mache ich nicht der Sichtbarkeit wegen, sondern einfach so für mich.

Chiara: An Bahnhöfen oder Orten, wo viele Menschen unterwegs sind, verberge ich meine Davidstern-Kette lieber.

Rachel: An der Musikhochschule fühle ich mich sicher. Ansonsten habe ich Angst, meine Davidstern-Kette offen zu tragen. Dabei wünsche ich mir, sie öfter zu zeigen, weil ich mich so näher bei meiner Familie und meiner Heimat fühle.

Würden Sie jungen Männern in Würzburg empfehlen, die Kippa, die jüdische Kopfbedeckung, in der Öffentlichkeit zu tragen?

Chiara: Das muss jeder selbst entscheiden. Wir haben Freunde, die das tun. Ich wäre eher vorsichtig. Wenn mein Partner in der Bahn etwas lauter auf Hebräisch telefoniert, dann sage ich schon: Schatz, sprich etwas leiser oder besser auf Englisch.

Würden Sie sich als religiös bezeichnen?

Nicole: Ja.

Chiara: Ja.

Rachel: Ich nicht. Eher kulturell jüdisch.

Halten Sie sich an Regeln wie die absolute Ruhe am Schabbat?

Chiara: Ich bin Anhängerin der Masorti-Tradition, das ist das konservative Judentum zwischen Orthodoxie und Reformjudentum. Wir sagen auch, der Schabbat ist heilig, wir arbeiten nicht, aber wir können Elektrizität benutzen. Wir verstehen Elektrizität nicht als Feuer wie orthodoxe Juden, die deshalb am Schabbat keine Lichtschalter betätigen. Ich versuche, mich an die Gesetze der Thora zu halten, fahre aber zum Beispiel manchmal auch Auto.

Befolgen Sie die jüdischen Speisegesetze?

Chiara: Ja, das ist mir wichtig, auch wenn es in Würzburg leider keine koscheren Geschäfte gibt. Was möglich ist, setze ich um. Ich kenne orthodoxe Juden, die essen nicht in einer Pizzeria, wenn sie nicht wissen, ob dort im Ofen oder in der Pfanne zuvor schon mal Schwein zubereitet wurde. Ich persönlich gehe in eine Pizzeria, bestelle mir dann aber was Veganes oder eine Pizza Margherita. Ich versuche, mich an möglichst viel zu halten. Aber ich lebe nicht in Israel, sondern in der Diaspora, da macht man Abstriche.

"Ich bin nicht die Botschafterin des Staates Israel."
Rachel, Jüdin in Würzburg
Was begegnet Ihnen an antisemitischen Stereotypen?

Nicole: Dass Juden geizig sind, zum Beispiel. Oft wird aber auch behauptet, so paradox das klingt, alle Juden hätten viel Geld, könnten sich alles leisten.

Rachel: Im Zusammenhang mit dem Krieg höre ich, die Menschen in Israel seien alle aggressiv, Israel sei ein Apartheid-Staat.

Nicole: Viele Nichtjuden halten uns für Exoten, haben Klischee-Vorstellungen von Aussehen, Hautfarbe oder Augenfarbe. Wenn sie mich kennenlernen, sind sie überrascht, dass man mir das Jüdischsein nicht ansieht.

Rachel: Ich weiß nicht, ob das zum Thema Stereotype passt. Aber mich stört, dass ich häufig als Botschafterin oder Pressesprecherin des Staates Israel wahrgenommen werde. Ich habe kein Problem, mal Fragen zu beantworten. Aber ich bin doch nicht für die Politik in Israel verantwortlich. Ich glaube, Studierende aus anderen Ländern werden nicht so für ihre Heimat in Haftung genommen.

Wie zeigt sich der Antisemitismus, den Sie erleben?

Chiara: Für mich fängt Antisemitismus schon mit Schmierereien oder judenfeindlichen Aufklebern an. Denen begegnet man auch hier in Würzburg an – gefühlt – jeder Bushaltestelle, jeder öffentlichen Toilette. Am schlimmsten ist es im Internet, in den sozialen Medien, da hat jeder von uns Judenhass schon erfahren. Ich habe mal einen Post über koscheres Essen kommentiert – und wurde umgehend krass beschimpft, nur weil ich mich als Jüdin zu erkennen gegeben hatte.

Was macht das mit Ihnen?

Chiara: Es sind zwei Reaktionen. Einerseits wird man bei Bedrohungen vorsichtiger. Anderseits wird man aber auch trotzig – und sagt, jetzt erst recht dagegen steuern, denn das darf nicht sein. So habe ich judenfeindlichen Kommentare immer wieder auch den Plattformen gemeldet. Aber da passiert nichts.

Nicole: Mir geht es genauso. Ich bin viel auf TikTok aktiv, da ist es extrem mit judenfeindlichen Kommentaren und Videos.

"Es ist ein Alptraum, was da alles geäußert wird."
Nicole, Jüdin in Würzburg
Halten Sie dagegen?

Nicole: Ich versuche es. Notfalls lege ich mein Handy zur Seite. Schmierereien in der analogen Welt berühren mich viel mehr. Dass Menschen hier im Umfeld mich und meine Freunde weg haben, ja am liebsten ausradieren wollen, das stimmt mich traurig. Da geht es an meine jüdische Identität. Judentum bedeutet mir alles – meine Familie, meine besten Freunde und meine Heimat.

Was hat sich seit dem 7. Oktober 2023 verändert?

Chiara: Der Hass ist mehr geworden – und er ist salonfähig geworden. Plötzlich verbreiten Menschen, die vorher nie was Politisches gesagt haben, irgendwelche Fakes zu Israel, zu Gaza oder zum Judentum. Die Hemmschwelle ist massiv gesunken.

Nicole: Es ist ein Alptraum, was da alles geäußert wird. Das Judentum war der schönste Teil meines Lebens, mittlerweile ist es gleichzeitig auch der schlimmste Teil geworden. Meine Mutter, die Tochter einer Holocaust-Überlebenden ist, hat früher schon gemahnt: Verstecke deinen Davidstern, bitte erzähl nicht jedem, dass du jüdisch bist. Das fand ich übertrieben vorsichtig. Heute weiß ich: Sie hatte recht, man kann nicht vorsichtig genug sein.

Chiara: Ich möchte aber auch was Positives sagen. Seit dem 7. Oktober hält die jüdische Gemeinschaft stärker als zuvor zusammen. Das Miteinander war vorher schon wichtig, aber jetzt spürt man überall, egal wo man hinkommt, diesen Zusammenhalt unter Jüdinnen und Juden aus aller Welt. Das ist richtig besonders.

"Lasst uns miteinander sprechen, nicht übereinander."
Chiara, Jüdin in Würzburg
Welche Erwartungen haben Sie an die Gesellschaft hierzulande?

Chiara: Ich würde mir wünschen, dass die Menschen mehr den eigenen Kopf einschalten, nicht auf jede Behauptung anspringen, die im Internet über das Judentum oder Israel verbreitet wird. Fragt nach, seid neugierig. Lasst uns miteinander sprechen, nicht übereinander. Es gibt viel mehr, was uns verbindet, als was uns trennt. Es gibt jüdische und nicht-jüdische Fans des VfB Stuttgart. Sich auf solche Gemeinsamkeiten zu besinnen, egal wie banal sie klingen, tut gut.

Rachel: Ich wünsche mir, dass die Leute, bevor sie mit mir über die Politik Israels reden, vielleicht erstmal fragen: Wie geht es dir, wie geht es deiner Familie?

Können Sie verstehen, wenn Nichtjuden sagen, Sie verspüren Unsicherheit im Umgang mit Jüdinnen und Juden. Oder sich davor fürchten, jede Kritik am Vorgehen Israels im Nahen Osten könnte als Antisemitismus missverstanden werden?

Nicole: Ja, solche Unsicherheiten kann ich verstehen. Aber dagegen lässt sich etwas tun. Geht auf jüdische Menschen zu, fragt sie, was sie verletzt, wo sie die Grenzen zum Antisemitismus überschritten sehen. Klar, natürlich darf man die Politik Israels kritisieren, das machen die Israelis selbst doch auch.

Chiara: Schwierig wird es, wenn das Existenzrecht Israels bestritten wird. Das ist Antisemitismus. So ein Slogan wie "From the river to the sea", der geht überhaupt nicht.

Rachel: Ich erinnere mich, bei einer Pro-Israel-Demo in Würzburg hat ein Teilnehmer zu mir gesagt, Jüdinnen und Juden seien die tollsten Menschen überhaupt. Das ist auch nicht hilfreich, das sieht nach Fake aus. Ich bin bei allen extremen Äußerungen sehr, sehr vorsichtig.

 
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  • Klaus B. Fiederling
    nicht nur in Deutschland ist es wieder so weit, lieber Norbert Sandmann. Ich höre seit 17.00 heute die Alarmglocken aus Österreich brüllen!!!, dem wunderbaren Alpenländle. Der Nachfolger von Haider hat es geschafft, seine FPÖ (Nazipartei Österreichs) salongfähig auf den 1. Platz noch vor ÖVP und SVP zu platzieren. Nur gut, dass niemand mit ihm koalieren will.
    Wir schlittern in beiden Ländern Machtverhältnissen entgegen wie kurz vor 1933 wo die Nationale Partei Deutschlands damals alle demokratisch gewählten Parteien von ihren Sitzen fegte, das Ende kennen wir ja dann: Unheil und Untergang für Deutschland!! Mensch Leute, wacht endlich auf. Es ist bereits 1 Minute vor 12, nicht 5 vor 12. Wer jetzt noch schläft sei gesagt: "Wachet auf ruft uns die Stimme!" Wie sieht es dann nächstes Jahr am heutigen Sonntagabend nach der Wahl in Deutschland aus, oder evtl. schon früher im Frühjahr?? Oh je, ich krieg Bauchweh wenn ich nur daran denke. Armes und schönes Deutschland
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  • Norbert Sandmann
    Ist es wieder soweit? Deutschland schäme Dich!
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  • Manfred Englert
    Leider verstößt der Kommentar gegen die Kommentarregeln auf mainpost.de (einseitige Pauschalisierungen). Wir haben den Kommentar deshalb gesperrt.
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