zurück
WÜRZBURG
Das Handicap mit dem Handicap
sta
 |  aktualisiert: 26.10.2017 03:11 Uhr
Die Lebenshilfe versteht sich als Selbsthilfevereinigung, Eltern-, Fach- und Trägerverband für Menschen mit geistiger Behinderung sowie ihre Familien. Bei der Jahrestagung des Verbandes Bayern in Würzburg stand das Anfang 2017 in Kraft getretene Bundesteilhabegesetz im Mittelpunkt. Ziel der neuen Regelungen ist die Stärkung der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen. Die Vorsitzende der bayerischen Lebenshilfe, Landtagspräsidentin Barbara Stamm (CSU), erklärt, was sie von dem Gesetz hält und wo es eventuell noch hakt.

Frage: Alle reden von Inklusion – aber ist Inklusion immer die beste Wahl, etwa im Schulbereich?

Barbara Stamm: Ganz klar: Das Lernen muss zum Kind passen, es muss sich am Kind orientieren. Für das eine Kind ist der Besuch der Regelschule die beste Lösung, wenn es dort passend unterstützt werden kann und ein sonderpädagogischer Ansatz möglich ist. Kinder mit Handicaps brauchen auch in Regelschulen eine individuelle Betreuung und Förderung, wenn Inklusion gelingen soll. Es gibt aber auch Kinder mit Behinderungen, bei denen die Förderung in einer Förderschule besser gewährleistet ist.

Im Arbeitsleben ist Inklusion oft noch ein Fremdwort – gerade dort aber wünschen es sich viele Menschen mit Behinderung. Was kann die Politik hier tun?

Stamm: Ich will zunächst mal festhalten, dass in meinen Augen Inklusion im Arbeitsleben nicht nur den Zugang zum ersten allgemeinen Arbeitsmarkt bedeutet. Auch die Werkstätten für Menschen mit Behinderungen sind Teil der Inklusion – denn erstens finden dort viele Betroffene die Möglichkeit, einer geeigneten und erfüllenden Tätigkeit nachzugehen, und zweitens sind Werkstätten keine Bastelstuben, sondern stehen im Wettbewerb mit Anbietern aus dem In- und Ausland um Aufträge aus der Wirtschaft.

Trotzdem wollen zunehmend mehr Menschen mit Behinderung lieber außerhalb einer Werkstatt arbeiten.

Stamm: Das liegt vielleicht auch am falschen Bild, das manche von den Werkstätten haben. Das sind längst keine isolierten Einrichtungen mehr, sondern sie bieten auch viele Arbeitsplätze außerhalb an, zum Beispiel im Gastronomiebereich. Im Bayerischen Landtag öffnen wir die Gaststätten am Sonntag für Gäste von außen und laden zum Brunch ein. Das Personal dafür stellt die Lebenshilfe München. So können Arbeitgeber in der freien Wirtschaft sich über Integrationsfirmen ein Bild von der Leistungsbereitschaft der betroffenen Menschen mit Behinderungen machen und ihnen dann auch reguläre Stellen anbieten.

Das Budget für Arbeit tritt Anfang 2018 im zweiten Teil des Bundesteilhabegesetzes in Kraft. Wird das die Inklusion am ersten Arbeitsmarkt erleichtern?

Stamm: Das Budget für Arbeit wird das Wunsch- und Wahlrecht der Menschen mit Behinderungen stärken. Es reicht aber nicht, Menschen mit Handicaps einfach einen Job auf dem ersten allgemeinen Arbeitsmarkt zu vermitteln und der Staat übernimmt einen Teil des Gehalts. Ich habe selbst schon oft persönlich betroffene Menschen mit Behinderungen auf dem ersten Arbeitsmarkt untergebracht – aber: das hat nur dann nachhaltig Erfolg, wenn man die Menschen in ihrem neuen Job und ihre Arbeitgeber weiter begleitet.

Das Bundesteilhabegesetz ist heftiger Kritik ausgesetzt gewesen – und ist es teilweise immer noch.

Stamm: Die Lebenshilfe hat in Bayern und im Bund sehr für Änderungen am Gesetz gekämpft und war damit auch erfolgreich. Wir sind der Auffassung, dass die Reform der Eingliederungshilfe jetzt in die richtige Richtung geht.

Kritiker sagen, die Bevormundung durch Behörden steige, die Zahl der Leistungsberechtigten werde eingeschränkt, ein Bürokratieabbau sei nicht umsetzbar.

Stamm: Ja, das hätte alles passieren können, aber diese Befürchtungen sind unter anderem durch Einwände der Lebenshilfe abgewendet worden. Es war zum Beispiel durchaus so, dass die Zahl der Leistungsberechtigten deutlich hätte zurückgehen können, weil geplant war, dass Menschen fünf von neun Kriterien erfüllen müssen, um Eingliederungshilfe zu erhalten. Das ist nicht mehr so, das ist vom Tisch.

Die Bezirke in Bayern befürchten, dass ihnen mit dem Gesetz Mehrausgaben aufgebürdet werden.

Stamm: Das Gejammer ist ja nichts Neues. Man muss aber auch mal erwähnen, dass die Bezirke bewusst die Zuständigkeit bei der Eingliederungshilfe klar für sich reklamiert haben. Jetzt bringt sich der Bund finanziell mit ein und zahlt Gelder an die Kommunen aus. Dann müssen die Gemeinden und Städte das auch an die Bezirke geben, damit diese ihre Aufgaben erfüllen können.

Der bayerische Bezirketagspräsident Mederer hat mal durchklingen lassen, dass sich die Bezirke von Land und Bund ein wenig im Regen stehen gelassen fühlen.

Stamm: Für konkrete Kritik bin ich immer zu haben. Etwa, wenn es um geeignete Wohnformen für Menschen mit Behinderungen in der Zukunft geht, da liegt nämlich noch einiges im Argen, gerade auch wenn es um Altersruhesitze für Menschen mit Handicaps geht. Aber: Die Kommunen in Bayern haben genug Geld, auch für die Eingliederungshilfe. Über den kommunalen Finanzausgleich stehen Bayerns Kommunen dieses Jahr 9,5 Milliarden Euro zur Verfügung. Das ist Jammern auf hohem Niveau!

Viele Menschen mit Behinderung dürfen nicht wählen. Was sagt die Lebenshilfe?

Stamm: Dieses Thema diskutieren wir schon sehr lange. Ich persönlich bin der Überzeugung, dass man nicht eine ganze Gruppe von Menschen pauschal vom Wählen ausschließen kann.

Frau Stamm, die Lebenshilfe spricht von „Menschen mit Behinderung“, die Betroffenen kritisieren diese Bezeichnung teilweise scharf.

Stamm: Ich kann die Einwände nur teilweise nachvollziehen, wir heißen ja auch ,Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung‘. Wir sind heute zwar auch ein Selbsthilfeverband, wurden aber vor mehr als 50 Jahren von vielen mutigen Eltern gegründet, die das Recht auf Bildung für ihre Kinder mit Behinderungen eingefordert haben. Deshalb ist diese Bezeichnung Teil unserer Geschichte. Wir sind aber offen für solche Diskussionen. Ich persönlich finde Taten allerdings wichtiger als Namen!

 
Themen & Autoren / Autorinnen
Arbeitsmarkt
Barbara Stamm
Bayerischer Landtag
Behinderte
CSU
Lebenshilfe
Lädt

Damit Sie Schlagwörter zu "Meine Themen" hinzufügen können, müssen Sie sich anmelden.

Anmelden Jetzt registrieren

Das folgende Schlagwort zu „Meine Themen“ hinzufügen:

Sie haben bereits von 50 Themen gewählt

bearbeiten

Sie folgen diesem Thema bereits.

entfernen
Kommentare
Aktuellste
Älteste
Top