Während Deutschland darüber diskutiert, Abschiebungen nach Afghanistan auszuweiten, entfachen dort erneut blutige Konflikte. Die Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe (DAHW) engagiert sich mit seiner Partnerorganisation seit mehr als 30 Jahren vor Ort. Jürgen Ehrmann war vor einigen Tagen als Projektkoordinator in der afghanischen Hauptstadt Kabul. Im Interview beschreibt er die Situation vor Ort.
Frage: Ihre Reise nach Kabul war schon länger geplant gewesen, hat aber eine unerwartete Wendung genommen.
Jürgen Ehrmann: Richtig. Seit vielen Jahren unterstützen wir in Afghanistan unsere Partnerorganisation LEPCO im Bereich der Lepra- und Tuberkulose-Hilfe. Auch ich bin deshalb regelmäßig vor Ort - so wie vergangene Woche. Dass wir aber kurzfristig ein Nothilfe-Projekt auf die Beine stellen müssen, damit hatte ich nicht gerechnet.
Was war passiert?
Ehrmann: Im Südosten der Region Hazaradschat – ein Teil unseres Projektgebietes - ist Mitte November der Konflikt zwischen den Taliban, örtlichen Milizen und den Sicherheitskräften der Zentralregierung eskaliert. Rund tausend schwer bewaffnete Taliban-Kämpfer sind in zwei Distrikte der Region Ghazni eingefallen, haben unter anderem eine Polizeistation zerstört und eine Eliteeinheit ausgelöscht. 18000 Menschen haben daraufhin in angrenzenden Städten Zuflucht gesucht. Wir hatten Glück, dass wir mit unserer Partnerorganisation LEPCO dort waren, so konnten wir schnell Hilfe leisten. Andere Organisationen hätten auf ihrem Weg erst von den Taliban kontrollierte Gebiete durchqueren müssen - ein zu hohes Risiko.
Wie kam es zu dem Angriff der Taliban?
Ehrmann: Es gibt Hinweise darauf, dass die Offensive eine Attacke gegen die Hazara war. Dabei handelt es sich um eine ethnische Minderheit in der Region. Möglich, dass die Taliban gezielt den Konflikt zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen schüren will. Das würde den afghanischen Staat – ähnlich wie in Syrien – weiter destabilisieren.
Wie ist die Situation in den Flüchtlingsunterkünften?
Ehrmann: Die Lage ist weiter angespannt. Allein in der Stadt Bamiyan müssen rund 3000 Geflüchtete - darunter völlig erschöpfte Kinder - versorgt werden. Zwischenzeitlich ist ein Großteil in Moscheen und Schulen untergekommen, wo sie - bei Außentermperaturen weit unter dem Gefrierpunkt - in dünnen Säcken schlafen. Viele von ihnen leiden unter Mangelernährung und Erkältungssymptomen.
Keine leichte Aufgaben unter solchen Bedingungen einen Hilfseinsatz zu organisieren.
Ehrmann: Nein. Vor allem die afghanischen Helfer stehen unter enormen Druck. Zwar konnten sie mit mobilen Kliniken direkt Hilfe leisten, doch Hilfsgüter waren nur auf den lokalen Märkten zu bekommen, wodurch sich die Preise teilweise verdreifacht haben. Mittlerweile aber haben wir es geschafft, einen getarnten Hilfskonvoi aus Kabul loszuschicken.
Ist der Konflikt mittlerweile entschärft?
Ehrmann: Die Taliban haben sich zwar wieder zurückgezogen, doch es könnte durchaus zu einem zweiten Angriff kommen. Die Menschen in den Lagern zögern, in ihre Heimatdörfer zurückzukehren, solange der Staat ihre Sicherheit nicht gewährleisten kann.
In seinem aktuellen Lagebericht spricht das Auswärtige Amt von einer volatilen, also unbeständigen Sicherheitsheitslage in Afghanistan – aus Ihrer Sicht eine zutreffende Einschätzung?
Ehrmann: Die Tatsache, dass kaum Hilfsorganisationen mit ausländischem Personal vor Ort präsent sind und Botschaften durch meterhohe Mauern geschützt werden müssen, sagt schon einiges über die Sicherheitslage aus. Vor allem die afghanische Bevölkerung, die sich nicht in Schutzräumen und hinter Panzertüren verstecken kann, läuft Gefahr, Opfer eines Anschlags zu werden. Wir jedenfalls schicken keine europäischen Mitarbeiter direkt in die Projektgebiete. Das wäre schlicht zu gefährlich.
Trotzdem planen die Innenminister der CDU und CSU laut einem SPIEGEL-Bericht Abschiebungen nach Afghanistan auszuweiten.
Ehrmann: Ich kenne die internen Analysen nicht, auf denen solche Entscheidungen basieren. Doch wer Abschiebungen in ein Land forciert, dass mehrheitlich von Rebellengruppen kontrolliert wird, wo Terror zum Alltag gehört und die staatlichen Strukturen höchst instabil sind, handelt verantwortungslos. Fakt ist: Afghanistan ist kein sicheres Herkunftsland, weswegen auch keine Abschiebungen dorthin stattfinden dürften.
Gibt es noch Hoffnung auf Frieden in Afghanistan?
Ehrmann: Meiner Meinung nach nur durch eine Beteiligung der Taliban an der Regierung. Doch einer Lösung müssten nicht nur die Stämme innerhalb des Landes zustimmen, sondern auch Pakistan und Saudi-Arabien sowie die USA, Russland und China. Wir sind längst an einem Punkt angekommen, an dem Afghanistan nicht mehr allein über seine Zukunft entscheidet.
Nach freien Wahlen hört sich das aber nicht an.
Ehrmann: Wir müssen uns von dem Gedanken verabschieden, dass sich Afghanistan in den nächsten Jahren zu einem demokratischen Staat entwickelt, denn die Demokratie ist ein Konzept, dass bei der Bevölkerung in Afghanistan noch nicht angekommen ist. Wir sollten uns stattdessen auf den Frieden im Land konzentrieren und versuchen, mit konkreten Projekten zivilgesellschaftliche Strukturen zu fördern und das Vertrauen – vor allem der jungen Afghanen – in den Staat zu stärken.