Nach gut zwei Monaten Schule zu Hause sind die bayerischen Grundschüler in dieser Woche zurück in ihren Klassenzimmern. Der Unterricht läuft wieder - wenn auch nur in kleinen Gruppen und im Wechsel. Doch was passiert mit jenen Kindern, die nicht so gut daheim gelernt, sondern Unterrichtsstoff verpasst haben? Was tun die Schulen, damit Lücken wieder aufgeholt werden? Jörg Nellen, stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Unterfranken, macht sich Sorgen: "Es ist eine Misere. Nach wie vor hängt der schulische Erfolg von dem Engagement der Eltern ab."
Die guten Schüler seien nicht das Problem, sagt Nellen. "Doch die Schüler, die von zuhause keine Unterstützung bekommen, sie sind in Bayern schon immer die Bildungsverlierer." Durch Corona gehe die soziale Schere noch weiter auseinander, nicht nur in Bayern. Internationale Studien wie der Unesco-Weltbildungsbericht würden zeigen: Die Corona-Pandemie hat weltweit gravierende Folgen für die Bildung.
Nicht jedes Kind kann selbstständig lernen
Gerade für Grundschüler ist der Unterricht daheim besonders schwierig. "Die Materialien für den Distanzunterricht können noch so schön aufbereitet sein, ein Grundschulkind kann sich neue Inhalte nicht selbst erarbeiten", sagt Thomas Ort, Vorsitzender des gemeinsamen Elternbeirates Grund- und Mittelschulen der Stadt Würzburg. "Es kann nicht von ihm erwartet werden, Einsicht in die Notwendigkeit des Übens zu haben und es kann nicht überblicken, ob jetzt wirklich alle Aufgaben gemacht sind."
Aus pädagogischer Sicht müsste der Lehrplan dringend entrümpelt werden, sagt Ort. Aus didaktischer Sicht stelle sich gerade in den Grundschulen, wo wichtige Grundlagen erlernt werden, die Frage, wie das gehen soll.
Noch dazu ist Schule weit mehr als ein Ort des Lernens und der Bildung: "Schule ist essentiell für die soziale Entwicklung der Kinder", sagt Johannes Jung, Professor für Grundschulpädagogik an der Universität Würzburg. "Die Bildungslücke ist nicht so dramatisch", sagt Jung, "wenn die Schulen den Betrieb wieder aufgenommen haben, kann vieles nachgeholt werden."
Aber die Begegnung mit anderen Schülern und Lehrkräften, die Gruppenarbeit, die Experimente, die Diskussionen, der gemeinsame Schulweg – das alles sei auch Schule und gehöre dazu. Über Wochen hat es nicht stattgefunden oder sehr gelitten. Dennoch ist der Grundschulpädagoge sicher: "Diese Zeit wird bei den meisten Kindern keine bleibenden Schäden hinterlassen."
"Schulen sollten so viel Präsenzunterricht anbieten, wie nur möglich", sagt Tobias Oelbaum von der bundesweiten Initiative "Eltern in der Krise". Auch in den Ferien müsse es – gerade für schwächere Schüler– freiwillige Unterstützungsangebote geben. "Die Politik muss endlich ihre Hausaufgaben machen und Präsenzunterricht auch in Zeiten einer Pandemie ermöglichen", so Oelbaum. Doch noch immer fehlten klare Angaben aus dem Kultusministerium. Jede Schule müsse deshalb selbst nach Unterrichtsmöglichkeiten suchen - "sei es in Ausweichquartieren wie Vereinsheimen oder Turnhallen". Viele Schulleiter fühlten sich von der Politik allein gelassen.
Kerstin Geus, Rektorin der Schiller-Grundschule in Schweinfurt, will für ihre Schüler noch mehr sogenannte Brückenkurse anbieten, damit Stoff nachgeholt werden kann. "Im Moment fehlt uns dazu noch das Personal, weil wir viele Unterstützungskräfte in der Notbetreuung einsetzen." Alle 165 Schüler aber seien "froh und glücklich wieder in der Schule zu sein". Der Distanzunterricht habe viel besser geklappt als beim ersten Lockdown, sagt Geus. "Wir haben uns darum gekümmert, dass es allen Schüler gut geht." Pädagogische Hilfskräfte und Drittkräfte unterstützten die Kinder individuell zusätzlich zu den Lehrkräften. So entstanden deutlich weniger Lücken als befürchtet.
Lücken schließen gelingt nur mit mehr Personal
Bildungslücken zu schließen, das gelinge nur mit mehr Personal, ist sich GEW-Sprecher Jörg Nellen sicher. "Alle Lösungen hätten schon seit Jahren Vorlauf benötigt: mehr Personal, Entlastung der besonders belasteten Lehrerinnen und Lehrer, gezielte Förderung der Bedürftigen." Vielen Familien gelinge der Bildungserfolg leicht, auch ohne Unterstützung. "Unser Augenmerk muss auf die schwachen Schüler gerichtet sein."
Der Würzburger Elternbeiratsvorsitzende Ort spricht von "Bildungsdilemma" und hält eine pauschale Wiederholung des Schuljahres für alle für inakzeptabel: "Was ist mit denen, die sich dann doch langweilen? Und was mit den Vorschulkindern? Bleiben die noch ein Jahr im Kindergarten?" Ort findet den Ansatz des Bildungsforschers Marcel Helbig diskussionswürdig, der ein Langschuljahr bis Weihnachten vorschlägt. So entstehe ein zusätzliches halbes Jahr, in dem die verlorene Lernzeit wieder aufgeholt werden könnte. "So könnten Klassenverbände und damit soziale Strukturen erhalten bleiben", sagt Ort. "Ein kühner Gedanke, aber vielleicht braucht es solche kühnen Gedanken gerade jetzt."