Was es beispielsweise mit der Video-Plattform TikTok und verschiedenen Challenges (Anm. d. Red.: Herausforderungen) oder Mutproben unter Jugendlichen auf sich hat, haben wir den Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Universitätsklinikums Würzburg, Prof. Dr. Marcel Romanos, im Interview gefragt.
Prof. Dr. Marcel Romanos: Ja, dieser Trend macht seit ein paar Jahren die Runde. Es gibt immer wieder Berichte, dass diese Challenges sich über TikTok, aber auch über andere soziale Medien oder über Kettenbriefe verbreiten. Was die Inhalte angeht, ist die Bandbreite sehr groß: Von ziemlich harmlosen Videos, die bestimmte Tanzmoves verbreiten bis hin zu Aufforderungen, hoch riskante bis hin zu sogar lebensgefährlichen Dingen zu tun. Von der Toiletten-Challenge, in der Klopapier angezündet wird, hatte ich aber bisher noch nichts gehört.
Romanos: Ich würde sagen ja. Bei den Challenges, in denen es zum Beispiel um Mode oder Tanzbewegungen geht, besteht die Gefahr, dass Minderjährige Bilder von sich hochladen, die dann eventuell missbräuchlich genutzt werden, im Sinne von Cybergrooming. Auch wenn viele Apps erst ab einem bestimmtem Alter genutzt werden dürfen, kommen auch schon jüngere Kinder damit in Berührung. Und das Netz ist schwer zu kontrollieren.
Romanos: Erst einmal handelt es sich bei einer solchen Plattform um ein Medium und das kann sehr unterschiedlich verwendet werden, aber eben auch missbräuchlich und schädlich. Die große Schwierigkeit bei den digitalen Medien ist: Wie gut kann man die Nutzung kontrollieren?Grundsätzlich gibt es drei Elemente. Das eine ist die öffentliche Aufsicht der Inhalte durch die Firmen selbst. Erst letztes Jahr wurde das Jugendschutzgesetz in dieser Hinsicht verschärft. Aber da wissen wir, dass die große Masse nur schwer zu kontrollieren ist und, dass viele Firmen diese Pflicht nur halbherzig durchführen.
Das zweite Element ist, dass Eltern die Kontrollmechanismen wie Altersfreigabe und Kinderschutzmöglichkeiten, die die Software bietet, vollumfänglich ausschöpfen. Es gibt im Internet detaillierte Anleitungen dazu. Das Allerwichtigste aber ist die offene Kommunikation im Elternhaus. Eltern sollten mit ihren Kindern im Gespräch bleiben, damit sich Kinder trauen, sie anzusprechen, wenn sie unangemessene, verstörende oder gefährliche Inhalte sehen.
Romanos: Wenn Eltern den Umgang komplett verbieten, kann es passieren, dass Kinder im Klassensetting oder in ihren Peer-Groups (Anm. d. Red.: sozialen Gruppen) in eine Außenseiterrolle geraten. Schließlich ist es auch wichtig, dass Kinder im Umgang mit den Medien kompetent werden.
Wenn soziale Medien ermöglicht werden, ist es wichtig, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Dann werden die Kinder auch kommen, wenn etwas Verstörendes vorliegt. Viele Eltern beklagen, dass ihr Kind ihnen irgendwann gar nichts mehr erzählt. Hier kann es helfen, sich selbst zu prüfen: Erzähle ich meinem Kind aus meinem Alltag und was mich bewegt? Oft klappt es besser, wenn auch Eltern ihre Interessen altersgerecht mit ihren Kindern teilen.
Romanos: Was die Kontrolle des Handys angeht: Dies ist ein nachvollziehbares Anliegen von vielen Eltern. Aber ich glaube, es hat sehr viel damit zu tun, welche Regeln man aufstellt, wenn die Kinder ihr Handy bekommen und wie alt sie sind. Es ist schwierig, bei 16-Jährigen ständig das Handy zu kontrollieren, es ist aber etwas anderes, wenn es um das Handy eines Neunjährigen geht, der es hat, um erreichbar zu sein. Klar ist: Kinder sind unterschiedlich, und was mit einem Kind eine vernünftige Vereinbarung sein kann, ist vielleicht bei einem anderen Kind unnötig und sogar kontraproduktiv. Es ist immer gut, wenn Dinge vorher besprochen und vereinbart werden. Klar ist aber auch, dass in kritischen oder gar lebensgefährlichen Situationen die Eltern auch die Pflicht haben, zu prüfen, womit ihre Kinder konfrontiert wurden.
Romanos: Es ist schon seit Jahren ein Thema, inwiefern digitale Medienkompetenz im Unterricht ausreichend behandelt wird oder, ob man es sogar als eigenes Fach braucht. Es ist schwierig, in unserem Schulsystem etwas Einheitliches zu fordern, weil jedes Bundesland nach wie vor die eigenen Kompetenzen hat. Für richtig halte ich aber, dass in der Schule der gesunde Umgang mit Medien Teil des Unterrichts ist. Ob das jetzt ein extra Fach ist oder zum Beispiel in einer Projektarbeit zum festen Bestandteil wird - darüber kann man reden. Das Thema an sich muss aber in der Schule dauerhaft implementiert und gefestigt werden. Ich weiß, dass viele Schulen Angebote machen, man kann aber darüber diskutieren, ob das reicht.
Romanos: Das spielt bei einzelnen Kindern, die zu uns kommen, eine Rolle. Bislang haben wir aber nur wenige Situationen gehabt, wo es dann wirklich problematisch wurde. Man muss auch bedenken, dass es Mutproben schon ohne das Internet gab und diese auch einen sozialen Zweck erfüllen. Biologische soziale und psychologische Faktoren erhöhen gerade in der Adoleszenz die Bereitschaft, auch riskante Sachen zu machen und Regelübertretungen durchzuführen. Da geht es auch um die Zugehörigkeit zur Gruppe und um Anerkennung in den Peers, darum, nicht ausgeschlossen zu sein und sich zu beweisen.
Wie man das zu bewerten hat, ist natürlich davon abhängig, was die Inhalte sind, ob es relativ harmlose Regelübertretungen sind, die man als Streiche subsumieren kann, oder ob sich Kinder wirklich in Gefahren begeben, körperlich oder auch psychisch exponieren oder ihre Bilder eventuell missbräuchlich verwendet werden. Wichtig ist, dass die Familie hinsichtlich kritischer Inhalte einen offenen Umgang findet. Dazu gehört auch eine Selbstreflexion, wie zuhause über Themen wie Gewalt, Pornografie oder über Sexualität gesprochen wird.