Vor gut 60 Jahren kamen die ersten Menschen aus der Türkei als sogenannte "Gastarbeiter" nach Deutschland. Unter den Einwanderern der ersten Generation aus Anatolien waren 1966 die Eltern von Dinçer Güçyeter, geboren 1979 in Nettetal, Nordrhein-Westfalen. Güçyeter war schon als Kind fasziniert von Musik und Literatur. Er machte eine Lehre als Werkzeugmacher, wurde dann aber bald Theatermachter, Lyriker und Verleger. Für seinen ersten Roman "Unser Deutschlandmärchen" (Verlag mikrotext) erhielt er den Preis der Leipziger Buchmesse 2023. Dinçer Güçyeter schildert darin die harten Anfänge in Deutschland und seine eigene Entwicklung vom "Gastarbeiterkind" zum Künstler. Am 22. November liest er in Würzburg.
Dinçer Güçyeter: Es gibt diese Unsicherheit immer noch. Sie hat Wurzeln geschlagen, weil sie vererbt wurde. Unsere Eltern hatten immer das Gefühl, dass sie irgendwas falsch machen. Sie haben sich immer wieder für Dinge entschuldigt, die gar nicht falsch waren. Das hat bei mir zu vielen Komplikationen geführt. In der Schule sollten wir auf keinen Fall ansprechen, wenn uns ein Unrecht passierte. Schweige einfach darüber, hieß es. Obwohl mir heute mein Gefühl sagt, es ist in Ordnung, mehr kannst du nicht - das Gefühl bleibt trotzdem. Ich weiß gar nicht mal, wie man es reparieren kann.
Güçyeter: Die Wurzeln liegen darin, dass man der Sprache nicht mächtig ist - die Angst, man könnte etwas missverstehen oder etwas falsch ausdrücken. Außerdem leben wir in einer Gesellschaft, in der sehr viel korrigiert wird. Viele Menschen verhalten sich im Alltag übergriffig, dabei könnte unser Leben soviel einfacher sein. Wir sind nunmal Wesen mit Schwächen und Ängsten. Dieses dauernde Bemängeln führt zu vielen Spaltungen. Es ist fast nicht mehr möglich, eine ausgleichende Kommunikation zu führen.
Güçyeter: Das ist von Generation zu Generation unterschiedlich. Die Generation meiner Eltern hat sich sehr viel Mühe gegeben, in der Gesellschaft einen Platz zu finden - trotz der schweren Arbeitsbedingungen, trotz des Fremdseins. Sie wollten dieses Fremdsein nicht weitergeben und haben sich sehr für die Bildung ihrer Kinder eingesetzt. Sie haben die Sprache gelernt, obwohl es keine Sprachkurse gab. Ich liebe diese gebrochene Sprache, die damals entstand. Sie wurde mit sehr viel Mühe erarbeitet. Ja, es war eine Mauer da, aber in den 70er, 80er Jahren wurde es ein bisschen einfacher, drüber zu schauen. Erst als in den 90ern die ganzen türkischen Fernsehsender empfangbar wurden, haben sich alle wieder ein bisschen zurückgezogen. Alle hatten plötzlich auf dem Bildschirm wieder die Kultur vor sich, der sie jahrelang ferngeblieben waren.
Güçyeter: Ob man es will oder nicht - die Vielfalt der Kulturen ist ein Teil dieses Landes. Wir müssen versuchen, im Gespräch zu bleiben. Ich denke, dass die Gesellschaft immer wieder versucht hat, den Weg der Kommunikation zu finden, das wurde nur immer wieder von der Politik blockiert, die mit vielen Regelungen und Aussagen auf Abgrenzung statt auf Integration setzte. Wenn man sieht, wie viel Zulauf heute die AfD hat. Wenn ich sehe, wie in meiner Straße in Nettetal, in der 60 Prozent Migranten leben, die AfD-Plakate hängen. Man möchte uns auch nach 60 Jahren noch korrigieren. Aber die erste Generation hat sich längst kaputtgearbeitet - da kann man nichts mehr korrigieren. Ab jetzt müssen wir alle zusammen in die Zukunft schauen.
Güçyeter: Es gibt bestimmt auf beiden Seiten unerfüllte Wünsche, Dinge, die nicht gesagt werden konnten. Darüber müssen wir reden: über unsere gemeinsamen Wunden, über unsere gemeinsamen Sehnsüchte. Wenn ich Menschen erlebe, die sich ausgrenzend verhalten, empfinde ich heute bei aller Wut auch Mitleid. Und stelle mir die Frage, was ist bei ihnen schiefgelaufen, was hat bei ihnen gefehlt?
Güçyeter: Ich habe mich oft gefragt, ob ich nicht sachlicher schreiben sollte. Das war aber ein ganz kurzer Gedanke. Es gibt tausende Sachbücher und Romane, die sachlicher sind. Ich sehe meine Aufgabe als Autor nicht darin zu belehren, sondern zu berühren. Ich wollte, ohne zu werten, beiden Seiten die Frage stellen: Was hätten wir besser machen können? Wie hätten wir ein besseres Zusammenleben haben können? Es gibt Dinge im Leben, die kann man nicht auf der Verstandesebene klären, das geht einfach nicht. Mit anderen mitfühlen, sich in andere hineinversetzen - das sind alles emotionale Prozesse. Und ich finde, sie sind sehr notwendig. Menschen nach Schablonen zu kategorisieren, ist das Einfachste, das lernt man in der Grundschule.
Dinçer Güçyeter liest am 22. November, 19 Uhr, in der Buchhandlung Knodt in Würzburg aus seinem Roman "Unser Deutschlandmärchen". Reservierungen unter Tel. (0931) 52673, info@knodt.de