Eine verwirrende Vielfalt von Fotos füllt den Bildschirm des Laptops von Dr. Anil Anwikar: Brückenpfeiler, die sich in den Wolken verlieren, in felsige Bergflanken getriebene Fundamente aus Stahlbeton, Schleusentore, Hafenkräne, wuchtige Fähranleger. Projekte, über die ganze Erdkugel verteilt, die sein Würzburger Ingenieurbüro geplant oder geprüft hat. Die Frage, welches davon sein Lieblingsbauwerk ist, beantwortet der 76-Jährige mit der für ihn typischen Leidenschaft für seinen Beruf: "Das ist schwierig, weil sie alle einfach großartig sind." Einen heimlichen Favoriten hat er aber doch: die Levensauer Brücke über den Nord-Ostsee-Kanal.
Arbeitstreffen vom Baltikum bis nach China
Mit elf Ingenieurinnen und Ingenieuren bearbeitet Anil Anwikar die Aufträge, auf die sich sein Büro in der Dürrbachau spezialisiert hat: Brücken-, Kran- und Stahlwasserbau. Nicht selten unternehmen die Mitarbeiter, die der Chef gern "Mitdenker" nennt, weite Reisen, um sich vor Ort mit ihren Auftraggebern zu treffen. Und die sitzen auch mal im Baltikum, in China, in den USA und häufig in Indien. "Ich bin jetzt seit 19 Jahren hier", sagt Geschäftsführer André Zühlke, der die Firma einmal übernehmen wird. "Und kein Tag war langweilig."
Dass Anwikar Consultants viel in Indien zu tun hat, kommt nicht ganz von ungefähr. Anil Anwikar wurde dort geboren und kam 1964 als Student über ein Austauschprogramm nach Leipzig. Später fing er bei der Würzburger Stahlbaufirma Noell an und machte sich 1992 mit seinem Büro selbstständig.
Zuschlag nicht erhalten und dennoch den Fuß in der Tür
Um das Jahr 2000 herum wurde die indische Eisenbahngesellschaft auf das Büro aufmerksam, das sich damals um die Planung des sogenannten Western Freeway in Mumbai bewarb. Diese über dem Meer um Teile der Metropole herum führende Autobahn soll die katastrophalen Verzögerungen entzerren helfen, die derzeit die Fahrt für Pendler auf den verstopften Straßen oder in überquellenden Straßenbahnen zu einem stundenlangen Nervenkrieg machen. Obwohl Anwikar Consultants den Zuschlag letztendlich nicht bekam, hinterließen die Pläne einen bleibenden Eindruck bei den Bauherren in Indien. Das Büro hatte auf dem Subkontinent einen Fuß in der Tür.
So erinnerte man sich an das Würzburger Ingenieurbüro, als die baustatische Prüfung für die Bogibil-Brücke über den teilweise 15 Kilometer breiten Fluss Brahmaputra anstand. Das knapp fünf Kilometer lange Bauwerk, das den Fluss an einer relativ schmalen Stelle überspannt, vereint die übereinander angeordneten Fahrbahnen einer Autobahn und einer Eisenbahnstrecke. Ein überaus spannendes Projekt, findet Anil Anwikar.
Überhaupt würden in Indien derzeit sehr viele Infrastrukturprojekte angestoßen, erzählt der Ingenieur. Die treibende Kraft dahinter sei Premierminister Narendra Modi, der erkannt habe, dass das Verkehrsnetz in seinem Land dringend ausgebaut werden müsse, um mit dem enormen Wachstum Schritt halten zu können. Teil dieses Programms ist die Erschließung der Region Kaschmir im äußersten Norden Indiens. Auch daran ist Anwikars Ingenieurbüro beteiligt.
Bahnline soll von der Kaschmir-Region bis nach Delhi reichen
Anil Anwikar hat von den Baustellen dort Fotos mitgebracht. Die geschotterten Straßen, die sich in Dutzenden Haarnadelkurven die steilen Hänge im vorderen Himalaya hinaufziehen, und die kleinen Siedlungen sind nur wegen des Baus der vielen Brücken und Tunnel für die zukünftige Eisenbahnstrecke entstanden. "Die Region ist bisher kaum erschlossen", sagt Anil Anwikar und erklärt, dass die Bahnlinie die nördlichste Ecke Kaschmirs mit der Großstadt Delhi verbinden soll.
Der Auftrag für Statik und Planung zweier Brücken, die Teil der Strecke sind, ging 2015 an Anwikar Consultants. Hier das Büro in Deutschland, das die Pläne macht, dort die Baustellen in der unzugänglichen indischen Gebirgsregion: Wie arbeiten Auftraggeber, Ingenieure und Arbeiter da zusammen? "Da gibt es oft Gesprächsbedarf", sagt André Zühlke. Vieles kann per E-Mail oder am Telefon geklärt werden. "Wir müssen dabei auch an die Zeitverschiebung denken", sagt Zühlke und lacht. Die deutschen Ingenieure greifen deshalb gern schon morgens zum Hörer, ehe sich die Kollegen in Indien auf den Feierabend vorbereiten.
Zwei bis drei Mal statten die Würzburger im Laufe jedes Projektes den Baustellen meist einen persönlichen Besuch ab. Die Mitarbeiter brauchen daher gute Englischkenntnisse. Schwierig sind auch die Berechnungen an sich. Nicht nur müssen die Ingenieure bisweilen schwierige Verhältnisse wie nachschiebende Gesteinsmassen im Gebirge oder die Gefahr von Erdbeben mit einkalkulieren, sondern auch die unterschiedlichen Normen und Vorschriften kennen, die in den jeweiligen Ländern gültig sind. "Das macht es interessant", sagt André Zühlke zu diesen Herausforderungen und ergänzt belustigt: "Aber die mechanischen Kräfte wirken überall auf der Erde gleich."
Beim Bau wird auf Fledermäuse Rücksicht genommen
Die beiden Brücken in Kaschmir, schlicht mit den Nummern 39 und 43 benannt, befinden sich derzeit im Bau. Von jetzt auf nachher geht es eben nicht in der Baubranche. Die Levensauer Brücke etwa, die Anil Anwikar so fasziniert, soll erst 2024 fertig sein. Sie wird den in die Jahre gekommenen Vorgängerbau ersetzen. Die besondere Herausforderung dabei: Weil auch eine Bahnlinie über die Brücke führt, muss die Bauzeit möglichst kurz gehalten werden. Und ein bedeutsames Quartier von Fledermäusen, das sich in einem der Widerlager befindet, darf nicht angetastet werden.
"Man braucht sehr viel Erfahrung, Wissen und Können", sagt Anil Anwikar über die Anforderungen, die sein Spezialgebiet an sein Büro stellt. Das spreche sich herum. Potenzielle Auftraggeber besichtigen Bauwerke und erkundigen sich, wer da geplant, berechnet oder geprüft hat. Auf diese Weise ist das Würzburger Büro schon an etliche Aufträge gekommen. Aber auch die Teilnahme an Ausschreibungen gehört für die Ingenieure zum Tagesgeschäft. Indien wird dabei sicher weiterhin einer Rolle spielen. Allein die geplanten Brückenbauwerke sollen an die 10 000 Kilometer ausmachen.