
Die Maschine war vom Typ "Grasshopper" (Grashüpfer), doch als der 27-jährige amerikanische Kameramann Joseph Dieves das kleine Beobachtungsflugzeug am 11. April 1945 bestieg, lag kein Vergnügungsflug vor ihm. An diesem Mittwoch filmte er von oben das, was von Würzburg nach der Bombennacht des 16. März und der mehrtägigen Schlacht um die Trümmerwüste übriggeblieben war: Leere Häuserhüllen in einer toten Stadt sowie die Ruine der Festung.

Die Aufnahmen hat Florian Hoffmann, Vorstandsmitglied der Filminitiative, zufällig auf der Internetseite des amerikanischen Nationalarchivs entdeckt. Joseph P. Dieves war der Urenkel deutscher Einwanderer. Bevor er 1941 eingezogen wurde, arbeitete er unter anderem als Kameramann für Paramount und die Universal Studios in Hollywood. In der Army gehörte er der 163. Signal Photo Company an und ab November 1943 zunächst in Italien, dann in Frankreich und schließlich in Deutschland den Vormarsch der GIs.

Anfang April war Würzburg in amerikanischer Hand
Am 10. April 1945 kam er nach Würzburg, das seit kurzem in amerikanischer Hand war. Beim erbitterten Kampf waren zwischen dem 31. März und dem 6. April mehrere Dutzend GIs und über 200 sinnlos in die Schlacht geführte Deutsche gefallen, wie eine neuere Untersuchung des Stadtarchivs Würzburg ergab. Am ersten Tag filmte Dieves das Gelände um den schon am 23. Februar 1945 bombardierten Hauptbahnhof mit Wracks von Lokomotiven und Waggons, die Ruine des nahegelegenen Gaswerks und das Wasserwerk in der Mergentheimer Straße. In beide Gebäude ging er hinein, wobei spektakuläre Sequenzen von deren zerstörter Inneneinrichtung entstanden.
Der Auftrag des Teams, zu dem auch Dieves‘ Kollege Clifford Bell und ein Fahrer gehörten, lautete, den Zustand Würzburgs möglichst authentisch zu zeigen. Dies erwies sich als unerwartet schwierig, schrieb Clifford Bell in seinen Memoiren "War Through a Lens". Viele Fassaden standen noch und von den Straßen aus konnte man kaum zeigen, dass vom Innern der Häuser nach dem Einsatz von fast 1000 Tonnen Spreng- und Brandbomben kaum etwas übriggeblieben war. So bestiegen Dieves und Bell einen Turm des Käppele, doch war die Entfernung zur Innenstadt zu groß, um brauchbare Material zu filmen.

Daher bat Dieves einen "Grasshopper"-Piloten um einen Rundflug, bei dem eben jene leeren Häuserhüllen von oben gezeigt werden konnten. Der Flug führte an der Ludwigstraße entlang, wo noch die Ludwigshalle stand, die Halle des 1864 aufgegebenen ehemaligen Würzburger Kopfbahnhofs. Zu sehen ist auch der Residenzplatz, auf dem die Nazis falsche Straßen angelegt hatten, um die Fotografen in feindlichen Aufklärungsflugzeugen zu irritieren. Umsonst, wie sich gezeigt hatte.

Schockierende Bilder gespenstischer Gebäudereste
Weiter ging es über den Marktplatz und das Neumünster, das seine Kuppel behalten hatte, zur Domstraße mit dem Grafeneckart und zur Augustinerstraße, in der das aus Beton errichtete Ämterhochhaus noch stand. Von der Franziskanerkirche waren dagegen nur die Außenmauern erhalten, ebenso wie von den allermeisten Häusern. Besonders schockierend sind Aufnahmen von gespenstischen Gebäuderesten zwischen Reuerergarten, Sanderring und Ringpark. Das Team um Joseph Dieves ließ der Anblick nicht kalt. "Von oben", schrieb Clifford Bell, "genügte der fürchterliche Anblick der Zerstörung, die Würzburg erlitten hatte, um das Herz zu rühren".

Einige Wochen später folgte ein weiterer herzzerreißender Moment. Anfang Mai befand sich Dieves im kurz zuvor befreiten Außenlager Kaufering des KZ Dachau. Der Dieves-Biograph Zach Drury hat rekonstruiert, was folgte, als dieser ein Massengrab mit toten Häftlingen filmen sollte: "Er sah, was niemand sehen sollte: über 2000 Leichen, viele nackt, einige verbrannt oder angekohlt, und alle kaum mehr als Skelette." Dieves bemerkte, wie einige Deutsche, eine weiße Fahnen schwenkend, aus einem Wald kamen. Nachdem er sie entwaffnet hatte, befahl er ihnen, die Leichen zu begraben und filmte sie dabei.

Was er im Krieg gesehen und erlebt hatte, ließ Joseph Dieves nach seiner Rückkehr in die USA nie los. Er litt an Posttraumatischer Belastungsstörung, arbeitete aber weiter als Kameramann. Unter anderem dokumentierte er den Besuch von Präsident John F. Kennedy 1962 in der University of California in Berkeley. Im November 1975 nahm er sich im Alter von 58 Jahren das Leben.

Die Infos über Joseph Dieves hat der 23-jährige Informationstechniker Zach Drury aus dem US-Bundesstaat Kentucky gesammelt. Auf seiner Internetseite findet sich ein ausführlicher Artikel über Dieves: www.combatcameracollection.com/collection/army/lt-dieves. Hier ist auch eine 1 3/4-stündige Zusammenstellung von Dieves‘ Filmaufnahmen aus dem Zweiten Weltkrieg zu sehen. Die Szenen aus dem KZ Kaufering beginnen ab Minute 83.


