2016 habe es angefangen: Lena*, die zu dieser Zeit die erste Klasse der Astrid-Lindgren-Grundschule in Helmstadt besucht, sei von einer älteren Schülerin beleidigt und eine Treppe hinunter geschubst worden. Ein Jahr später habe ein Junge Lena und ihre Freundin im Bus ins Gesicht geschlagen. Mitte 2018 dann seien das Mädchen und später auch eine Mitschülerin von drei Jungs mit Springseilen an einen Baum gefesselt worden, erzählt ihre Mutter. Und sie sagt: „Niemand hat eingegriffen, auch nicht die Pausenaufsicht.“
Wegen des ersten Falls vor zwei Jahren habe sie sich bei Rektorin Michaela May beschwert – erfolglos. „Sie hat sich das Problem angehört, aber absolut nichts dagegen getan“, berichtet Lenas Mutter. Sie sei darüber so enttäuscht gewesen, dass sie sich nach den anderen Fälle nicht mehr an May gewandt habe. Doch sie wolle die Probleme an der Grundschule öffentlich machen – und schrieb deshalb an diese Redaktion.
Lena ist nach Berichten mehrerer Eltern kein Einzelfall: Tobias* wurde in der ersten Klasse in der Pause von zehn Mädchen aus der zweiten Klasse verfolgt. „Als er das der Pausenaufsicht erzählt hat, meinte die Lehrerin, dass er ihnen doch einfach aus dem Weg gehen soll“, sagt seine Mutter. In der zweiten Pause und auch am nächsten Tag hätten die Mädchen nicht aufgehört, den Jungen zu verfolgen. Irgendwann habe ihm schließlich ein Klassenkamerad geholfen, der den Fall der Aufsicht meldete – in diesem Fall einer anderen Lehrerin, die eingriff.
Ein Mädchen isst und schläft nicht mehr
Auch Sarah* werde schon seit drei Jahren drangsaliert: In der ersten Klasse habe ein Mädchen sie auf dem Heimweg beleidigt und so sehr geschubst, dass Sarah auf die Straße fiel und sich den Ellenbogen brach, berichtet ihr Vater. „Das passiert eben manchmal“, habe die Schulleiterin dazu gesagt. Auf die Vorfälle angesprochen, sagt Michaela May der Redaktion gegenüber dagegen: „Das war ein unglücklicher Fall, der mir total leid für das Mädchen tut.“ Auf dem Heimweg gebe es im Gegensatz zum Schulhof meist keine Zeugen, was es schwierig mache, den Fall zu klären.
Ein Jahr sei Sarah von einer Gruppe älterer Jungs erpresst worden: „Sie hat ihnen 65 Euro von ihrem Ersparten gegeben“, sagt der Vater. Ein Junge habe kurz darauf ein schlechtes Gewissen bekommen und seiner Klassenlehrerin davon erzählt. In einem Gespräch zwischen der Lehrerin, der Schulrektorin und den Eltern habe, so Sarahs Vater, May dem Mädchen vorgeworfen, sich die Freundschaft der Jungs erkaufen zu wollen. „Zum Schutz der Kinder möchte ich dazu keine Einzelheiten nennen“, sagt May gegenüber der Redaktion.
Der Vater klagt darüber, dass seine Tochter nur noch sehr wenig esse und schlafe und sich vor Angst die Finger blutig kaue. „Wenn sie nach der Schule lächelnd vor der Tür steht, freuen wir uns riesig, dass an diesem Tag ausnahmsweise nichts passiert ist.“
Elternbeirat will Vorfälle sammeln
„Dass die Pausenaufsicht etwas übersieht, kann bei dem verwinkelten Schulhof schon passieren“, sagt Cornelia Franke, die im vergangenen Schuljahr dem Elternbeirat der Schule angehörte und sich neu aufstellen lassen möchte. „Was nicht sein kann, ist, dass gemobbten Schülern nicht geglaubt wird und die Mobber nicht bestraft werden.“ Deshalb sammle sie nun Vorfälle, von denen ihr die Eltern berichten, um sie später der Rektorin vorzulegen.
Im Leitbild der Astrid-Lindgren-Grundschule steht, dass das Ziel der Schule sei, „Kinder auf einem gewaltfreien Weg zu einem gesunden Selbstwertgefühl zu begleiten.“ Dafür gibt es unter anderem eine Schulpolizistin, die für die Grundschule zuständig ist: Ihr seien keine Mobbingfälle bekannt, sagt Nadine Müller auf Anfrage. Jenny Schulze, die als Schulsozialarbeiterin an der Schule arbeitet und Schüler, Eltern und Lehrer in schwierigen Situationen unterstützen soll, wollte sich unserer Redaktion gegenüber nicht äußern und verwies auf die Schulrektorin.
May: Schule geht gegen Mobbing vor
May sagt zu den Vorwürfen: „Dass die Schule nichts gegen Mobbing tut, ist nicht richtig. Vielleicht tun wir manchmal nicht das, was die Eltern in dem Moment gerne möchten.“ Die Schule leiste vielmehr intensive Arbeit gegen Mobbing: Im vergangenen Schuljahr sei ein pädagogischer Elternabend zum Thema „Schule ohne Mobbing“ veranstaltet worden, bald gebe es eine Lehrerfortbildung zu „Sozialem Miteinander“. „Wenn Mobbingfälle bekannt werden, hören wir uns immer beide Seiten an“, so May. Oft gebe es Runde Tische mit den betroffenen Kindern, der Schulleitung, Eltern, Lehrern und Sozialarbeitern. „Es ist natürlich normal, dass trotzdem nicht immer alles gut laufen kann.“
* Die Namen der Kinder wurden von der Redaktion geändert.
Schikane im Klassenzimmer: Was Mobbing-Forscher raten
In Deutschland werden laut der Münchner Psychologieprofessorin Mechthild Schäfer jährlich eine halbe Million Schüler Opfer von Schikanen in Schulen. Auch Grundschulkinder beherrschen schon das oft folgenschwere Macht- und Manipulationsspiel. Lehrer sollten deshalb vermeintlich harmlose Schikanen niemals als „Kinderkram“ abtun, so die Mobbing-Forscherin von der Ludwig-Maximilians-Universität in einem früheren Interview mit dieser Redaktion.
Ihre Erkenntnisse aus Grundschulen hat Schäfer unter anderem in der Carlsen-Verlagsreihe Pixi-Wissen in einem Antimobbing-Büchlein zusammengefasst. Es wird zusammen mit Arbeitsblättern speziell in Grundschulen zur Prävention eingesetzt. Im Kinderroman „Warte nur, wir kriegen dich!“ von Autorin Martina Dierks, in dem es um ein 11-jähriges Mobbingopfer geht, schrieb die Psychologin das Nachwort.
Mobbing entstehe nicht aus dem Konflikt zweier Schüler. Ohne Gruppe würde Mobbing nicht funktionieren, so Mechthild Schäfer. Es gebe immer Täter, Opfer, Unterstützer, Verteidiger und Mitläufer. Kinder, die mobben, schauten nicht auf das Opfer, sie schauten immer nur auf die Reaktionen in der Gruppe. Das heißt, wenn das Opfer weg ist, komme das nächste Opfer. Zudem entwickele eine Schulklasse ein Mobbing-Gedächtnis. Und dann brauche es nur wenige Auslöser und der Prozess beginne von vorne.
Schäfer empfiehlt eine konsequente Aufarbeitung seitens der Schule. Die Pädagogen stünden hier in der Verantwortung. Wichtig seien klare Ansagen an die Schüler: „Ihr müsst Euch nicht mögen, aber DAS passiert in dieser Klasse ganz sicher nicht.“ Ohne Eingreifen der Lehrkräfte bliebe das Problem bestehen. Bei der Aufarbeitung empfiehlt die Psychologie-Professorin Gruppenarbeit. „Die Schüler müssen verstehen, was da passiert.“ Das sei ein Lernprozess.
Täter zu stigmatisieren sei nicht sinnvoll. Das Bedürfnis der Eltern, sich das Kind, das mobbt, vorzuknöpfen, sei verständlich, aber nicht ratsam. Zudem seien Mobbingtäter gute Blender, sie zeigten sich ausgesprochen höflich und einsichtig und könnten sich gut ausdrücken. MEL