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WÜRZBURG/MÜNCHEN
Schikane im Klassenzimmer
Konflikte zwischen Einzelnen werden fälschlicherweise noch immer als Auslöser für Mobbing gesehen. Dabei ist den Tätern die Person des Opfers egal, sagt die Psychologin Mechthild Schäfer. Ihnen geht es um Macht und die Manipulation einer gesamten Gruppe.
Melanie Jäger
Melanie Jäger
 |  aktualisiert: 11.12.2019 18:55 Uhr

In Deutschland werden jährlich eine halbe Million Schüler Opfer von Schikanen in der Schule. Von kleinen Sticheleien bis hin zu quälenden Aktionen über Monate und Jahre hinweg ist alles dabei. Experten aus Würzburg und München forschen seit Jahren Hand in Hand auf einem Terrain, das laut Mechthild Schäfer, Professorin am Department für Psychologie der Ludwig-Maximilans-Universität in München, weder von Eltern, geschweige denn von Lehrern als Kinderkram abgetan werden darf.

Frage: Wie funktioniert Mobbing? Geht da nicht immer ein Konflikt zwischen zwei Schülern voraus?

Mechthild Schäfer: Nein. Definitiv nicht! Ohne die Gruppe würde Mobbing nicht funktionieren. Wir starren auf das Opfer, wir starren auf den Täter, dabei ist das das Unwichtigste an der Sache!

Gibt es dafür Beispiele?

Schäfer: Wir zeigen in Workshops mit Schülern gerne Zwei-Minuten-Filme aus Schweden, die dort für Mobbing-Prävention eingesetzt werden. Da wird zunächst ein rothaariger Junge schikaniert, später immer wieder irgendein Kind, das gerade eine rote Mütze trägt. Das Opfer ist reines Mittel zum Zweck. Die Täter gucken nicht auf das Opfer! Die gucken nur auf die Reaktionen in der Gruppe. Wenn das Opfer weg ist, kommt das nächste Opfer.

Greift dieser Mechanismus auch bei Tätern?

Schäfer: Ja, wenn da einer weg ist, wächst der nächste nach. Entscheidend bei der ganzen Sache ist die Gruppe. Eine Klasse entwickelt ein Mobbing-Gedächtnis. Und dann braucht es nur einen Auslöser, und der Prozess geht von vorne los.

Dann kann es also sein, dass eine Klasse ihr Mobbingproblem gar nicht mehr loswird?

Schäfer: Ja. Da können mal zwei Jahre Ruhe sein – und dann kommt wieder ein Fall auf. Wenn man nicht wirklich mit einer Klasse daran arbeitet, dann rutscht die Gruppe bei der nächstbesten Gelegenheit in genau die gleiche Sache rein, jeder übernimmt seine eingefahrene Rolle. Völlig unabhängig von der Person des Täters oder des Opfers.

Was kann man als Lehrkraft tun?

Schäfer: Lehrer spielen eine ganz große Rolle. Sie sollten Mobbingfälle, so klein sie erscheinen mögen, nie einfach als Kinderkram abtun. Auch nach dem Ende eines Falles sollten sie mit der Klasse weiter daran arbeiten.

Sind Lehrer überhaupt auf Mobbing-Lösungsstrategien vorbereitet?

Schäfer: Lehrer neigen oft dazu, das Problem zunächst zu ignorieren. Eine eigene Aufarbeitung in der Klasse verweigern sie häufig und geben das Problem stattdessen an die Schulpsychologen oder Sozialpädagogen ab. Die sind als Unterstützung große Klasse in solchen Fällen, aber der Lehrer ist das Vorbild in allen Dingen für die Kinder, so ist das im Schulsystem angelegt. Ist er das nicht, entsteht ein neuer Kontext, in dem der Lehrer den Schulpsychologen bildlich gesprochen eine Runde rumhampeln lässt, was ja auch eine Abwertung dieser Leute ist. Und dann kehrt man wieder zurück zur Normalität. Das löst das Problem einfach null.

Eine Erstklässlerin wird von bestimmten Kindern immer wieder von gemeinsamen Aktivitäten ausgeschlossen. Wie ernst muss man das als Eltern nehmen, sollte man die Lehrer darauf ansprechen?

Schäfer: Das muss man sehr ernst nehmen. Denn ohne Eingreifen seitens der Lehrkraft wird das so bleiben. Sowohl für die Täterin als auch für das Opfer. Das ist der Job der Schule, zu sagen, wenn wir in einer Gruppe Erziehung machen wollen und nicht mit Hauslehrern arbeiten, dann haben wir da auch eine verdammt große Verantwortung.

Das steht auch in jedem Pflichtbüchlein eines Lehrers drin, dass er 50 Prozent Pädagoge ist. Wenn Sie oder ich 50 Prozent unserer Pflichten im Job so sträflich vernachlässigen würden, wir würden fliegen!

Was raten Sie Grundschullehrern, die in eine solche Situation kommen?

Schäfer: Wir haben gerade konkret ein Büchlein für Grundschulen konzipiert mit Arbeitsblättern, wie man mit dem Thema umgehen kann. Das zielt auf Gruppenarbeit. Die Schüler müssen begreifen, was da passiert. Das ist ein Lernprozess. Nichts, was man einfach wissen sollte.

Ist jeder Mobbingfall anders?

Schäfer: Nein, eigentlich nicht. Jeder Fall fängt anders an, aber letztlich ist die Logik immer gleich. Da ist eine oder einer mit einem klaren Machtinteresse, der an einem anderen zeigt, das er sich das erlauben kann, und da ist eine Klasse, die dadurch polarisiert wird. Die Kinder in einer Klasse, besonders die Freunde des Opfers, können dadurch in einen Konflikt geraten, der sehr quälend ist. Die Kinder gerade einer ersten Klasse haben alle eine bestimmte Rolle und die gibt ihnen auch Sicherheit.

Und wenn diese Rolle plötzlich zur Disposition steht, weil sie sich plötzlich für einen oder gegen einen entscheiden müssen, und häufig auch damit gegen ihr Gewissen entscheiden müssen, dann wird das auch für die zu einer richtig unangenehmen Angelegenheit. Prävention ist deshalb wichtig.

Wie kann die aussehen?

Schäfer: Eine klare Ansage ist total wichtig: Ihr könnt hier in der Klasse alles machen, ihr müsst euch nicht mal mögen – aber DAS passiert in dieser Klasse nicht. Denn nur so seid ihr alle geschützt davor, dass die Gruppe einen von euch ausschließt.

Beispiel Ausschluss innerhalb einer kleinen Gruppe. Du darfst nicht mitmachen. Nur die und jene. Du nicht. Ist das schon Mobbing?

Schäfer: Ja. Denn so etwas macht absolut mürbe. Und das Problem ist, dass sich eine nicht homogene Gruppe mit Beginn des Mobbings neu definiert, also Rollen neu verteilt werden. Nach dem Motto, wenn ich jetzt zur Täterin halte, dann habe ich plötzlich eine ganz klare Rolle in der Klasse. Dann gehöre ich dazu. Das sind ganz normale Bedürfnisse der Kinder, doch das führt zu etwas, das einfach verheerend ist. Dinge, die die Kinder noch lernen müssen, laufen bei Mobbing in eine völlig falsche Richtung.

Haben auch Schüler höherer Klassen noch so ein Bedürfnis?

Schäfer: Ja. Ich denke da an einen Fall in einer 11. Klasse eines Münchener Gymnasiums. Da waren die Mädchen mit dem Mobbing einer Mitschülerin schon durch, da dachten die Jungs, jetzt könnten sie da auch noch mal mitspielen. Auch das zeigt wieder, Mobbing hat nichts mit dem Konflikt zwischen zwei Einzelnen zu tun. Die ganze Klasse hat ein Problem. Der Schulleiter hat das zum Glück erkannt. Die Folge war eine professionelle Aufarbeitung in der Klasse, wobei sich herausgestellt hat, dass die Jungs erleichtert waren, dass sie sich wieder ganz normal verhalten konnten und nicht mehr Teil einer Machtinszenierung waren.

Aber welcher Lehrer gibt denn gerne zu, dass seine ganze Klasse ein Problem hat?

Schäfer: Ja, aber das kann passieren, dass man solche Kinder in der Klasse hat und dass sich daraus ein Problem für alle entwickelt. Lehrer sollten sich diesbezüglich keine Sorgen machen, sondern sich alle Hilfe holen, die sie benötigen, um das in den Griff zu bekommen. 30 Prozent einer Population streben nach Macht. Wenn Sie zwei zusammen haben, dann brauchen Sie eigentlich noch niemanden, der führt. Wenn drei Leute zusammen zu etwas kommen wollen, braucht es schon einen, der führt. Das kommt aus der Evolutionsbiologie und das ist ja auch gut so, denn sonst hätten wir wohl nicht überlebt.

Es braucht also schon jemanden, der führt?

Schäfer: Ja, aber im positiven Sinn. Jemand, der verantwortlich führt. Das ist völlig normal. Nur eine Schule muss sagen, bis zu einem gewissen Punkt gerne, nur ab einem gewissen Punkt ganz sicher nicht!

Sie stellen in Ihrer Forschungsarbeit unter anderem fest, dass der, der mobbt, populär ist. Aber nicht unbedingt beliebt. Wo ist da der Unterschied?

Schäfer: Wir haben Kinder danach befragt, wen sie am liebsten mögen. Und dann gefragt, was denkst du, wer hat die meisten Freunde? Und das passte nicht zusammen. Man sieht daran, dass die Popularität total überschätzt wird. Man denkt, der muss doch toll sein, weil die anderen den auch gut finden. Ich persönlich mag ihn zwar nicht so, aber den zum Freund zu haben, ist schon klasse. Ihn allerdings zum Feind zu haben, ist bestimmt grausam. Und dann fällen die halt Entscheidungen. Und die kleinen Zwergerl tun sich da natürlich schwer, denn ihnen fehlt einfach noch der Überblick. Das kommt erst in der dritten, vierten Klasse, dass sie gruppenfähig werden.

Sie sagen, viele Schüler empören sich ehrlich über Mobbing, merken aber gar nicht, dass sie in ihrer eigenen Klasse mittendrin stecken. Wie kommt das?

Schäfer: Viele bemerken das tatsächlich nicht. Das darf man aber nicht als gegeben hinnehmen, sondern ganz klar sagen, dass hier etwas falsch läuft in der Wahrnehmung. Wenn sich in einer Klasse 25 Kinder gegen eines verschwören, dann ist das absolut verwerflich. Das darf es nicht geben. Und das ist auch nicht verhandelbar. Und in weiterführenden Schulen sollte ganz klar die Ansage kommen, wenn du nicht bereit bist, dich an unsere Klassenregel zu halten, dann such dir bitte ein anderes Umfeld. Punkt.

In der Grundschulzeit dürfte das schwierig sein?

Schäfer: Richtig. Da ist es nicht sinnvoll, Täter zu stigmatisieren. Hier muss man in der Gemeinschaft agieren und zusammen Lösungen finden. Das Bedürfnis der Eltern des Mobbingopfers, das andere Kind zur Rede zu stellen, ist zwar verständlich, aber nicht ratsam. Auch die Ansage, mit den Eltern reden zu wollen, kann nach hinten losgehen, denn bei einem Kind, das so machiavellistisch zu Hause aufwachsen kann, werden die Eltern immer sagen, mein Kind macht so was nicht.

Sie sagen, es braucht hohe kognitive Fähigkeiten, um zum Mobbingtäter zu werden, wie sieht das konkret aus?

Schäfer: Die Kinder können sich schon früh sehr gut ausdrücken, sind Erwachsenen und Lehrern gegenüber ausgesprochen höflich und einsichtig. Sie können die Fähigkeiten, die man zum Täuschen und Manipulieren beherrschen muss, besser als andere einsetzen, um ans Ziel zu kommen. Sie sind gut im Umgang mit ihren Freunden. Wer sollte da annehmen, dass diese kleinen Machiavellisten im Umgang mit anderen Kindern ein anderes Gesicht zeigen? Dass das aber so ist, haben unsere Befragungen gezeigt. Etwa 40 Prozent der Täter werden von Mitschülern als Machiavellisten identifiziert.

Was sind die Folgen von Mobbing?

Schäfer: Kurzfristig leiden gemobbte Kinder unter Schlafstörungen und zeigen strake Tendenzen der Schulvermeidung. Wer längere Zeit gemobbt wird, hat ein erhöhtes Risiko, an Depressionen zu erkranken. Es kommt vermehrt zu Selbstmordgedanken. Selbst Jahre nach dem Ende der Schikanen leiden viele Mobbing-Opfer noch unter Ängsten und einem geringeren Selbstwertgefühl.

Mechthild Schäfer ist Professorin in München. Sie forscht, lehrt und publiziert seit mehr als 15 Jahren am Department für Psychologie der Ludwig-Maximilians-Universität des Landeshauptstadt. Eines ihrer Schwerpunktthemen ist Mobbing. Im Carlsen-Verlag ist in der Reihe Pixi-Wissen gerade „Das Anti-Mobbing-Buch“ von ihr und Klaus Starch erschienen. Es soll zusammen mit entsprechenden Arbeitsblättern speziell in Grundschulen zur Prävention eingesetzt werden. Foto: Wort&Bild Verlag

 
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