Wer hat sich nicht, vor die Wahl zwischen zwei Alternativen gestellt, gewünscht, beide möglichen Wege durch Spaltung oder Verdoppelung seiner Person zu experimentieren. Was im realen Leben schlimmstenfalls als Persönlichkeitsspaltung zu behandeln ist, kann in der literarischen Fiktion problemlos durchgeführt werden.
Und so baute Amichai in den Roman „Nicht von jetzt, nicht von hier“ zwei Handlungsstränge in Weinburg, d.h. Würzburg, und Jerusalem auf, denn sein Protagonist, der verheiratete Archäologe Joel aus Jerusalem, steckt in einer Identitätskrise und sieht sich vor zwei Alternativen gestellt: eine leidenschaftliche Liebesaffäre mit der amerikanischen Ärztin Patricia in Jerusalem oder die Rückkehr nach Weinburg, die Stadt der Jugend, um sich den Schmerzen der Erinnerung auszusetzen, der Sehnsucht nach der Kindheit und den Rachegedanken für die Ermordung der Kindheitsfreundin Ruth.
In Weinburg und Jerusalem
Amichai aber mixt aus dem Stoff keine Sensationsgeschichte. Handlung ist fast nebensächlich, wesentlich ist die jeweilige innere Entwicklung, die Joel in Weinburg und Jerusalem nimmt. In Weinburg findet er keine Täter, verliert den Wunsch nach Rache und erlebt den Lebensweg der kleinen Ruth in den Tod nach.
Lange wandert Joel durch die zerstörte, modern aufgebaute Stadt, spürt überall die Präsenz der Vergangenheit, seiner Kindheit, der Verfolgung, aber seine widersprüchlichen Gefühle und scheinbare Gewissheiten verwirren sich, klären sich in der Trauer um die verlorene Ruth und Kindheit. Die objektive Strafe für den Holocaust vollzog für Joel die US-Army bereits 1945 mit der völligen Zerstörung der Stadt. Joel in Jerusalem findet in Patricia tatsächlich eine begehrenswerte, einfühlsame und intelligente Frau, doch auch in Jerusalem verwirren sich Joels Gefühle und Gedanken hin zur Entscheidungsunfähigkeit.
Gespaltene Identität
Mit dem Titel zeigt Amichai, dass Joels Probleme nicht aus dem „Jetzt“ und „Hier“, seinem Leben in Israel, sondern aus seiner jüdischen Geschichte und dem Bruch mit dieser folgen. Die gespaltene Identität resultiert auch aus der Verfolgung und Vertreibung aus der früheren Heimat, sowie der Ermordung von mehr als sechs Millionen Juden durch die deutschen Nationalsozialisten. Er zeigt einen jungen modernen Mann, der gerade nicht dem zionistischen Ideal des jungen, starken und kämpferischen Streiters für den gemeinsamen jüdischen Staat entspricht.
Joel ist kein positives Vorbild im Sinne der zionistischen Ideologie, sondern ein entfremdeter moderner Mensch, der die europäische Vergangenheit der Juden als die Zeit der Verfolgten nicht mehr verdrängt. Erst mit dem Eichmann-Prozess 1961 bekamen die Überlebenden des Holocaust als Zeugen eine Stimme, die auch im eigenen Land Gehör und Aufmerksamkeit fand. Amichai nahm das auf und setzte in der kleinen Ruth seiner ermordeten Kindheitsfreundin Ruth ein literarisches Gedächtnis.
Nebenbei ein Würzburgroman
So wurde der Roman für seine israelischen Leser ein schwieriges Buch, das der Forderung des jüdisch-deutschen Autors Franz Kafka entsprach: „Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns“. Auch für die Würzburger Leser kann der Roman wie diese Axt wirken: Amichai lässt seinen Protagonisten durch die halb zerstörte Stadt wandern. Joel erinnert sich an die Opfer des Holocaust, die „Armee der Toten“, sieht die untergegangene Stadt in seinen Erinnerungen und fühlt sich dort wohl, wo die sachliche Nachkriegsarchitektur das neue Stadtbild bestimmt. Amichai hat nebenbei auch einen Würzburgroman geschrieben.
Dieses Buch hat keine von Aktion und Spannung bestimmte Handlung auf ein überraschendes Ende hin, sondern zeigt die innere Verwirrung und die Identitätskrise eines jungen Israeli aus dessen Perspektive. So scheint die erste Lektüre des Buchs schwer, aber man muss das Buch nicht in einem Zug lesen. An jeder Romanstelle wird man in die vielschichtige und assoziative Vermittlung der Welt zwischen 1930 und 1960 einbezogen und lernt in dem teils autobiografischen Roman neue und ungeahnte Perspektiven kennen.
Vor 50 Jahren hätte der Roman in Würzburg in seiner Radikalität provoziert, heute macht er nachdenklich.
Von unserem Gastautor Hans Steidle.