
Und das kann man echt studieren?“ wird Jasmin Süß oft gefragt. Sie ist eine von 33 Studierenden, die seit Oktober erstmals den neuen Studiengang „Games Engineering“ an der Julius-Maximilians-Universität studieren. Daddeln in der Vorlesung? Benotetes Zocken? Solche Bilder kursieren in einigen Köpfen über diesen Ingenieur-Studiengang. „Vorurteile muss man sich als Gamer sowieso ständig anhören“, sagt die 19-Jährige, die sich wie ihre Kommilitonen nicht erst seit dem Semesterstart mit Computerspielen beschäftigt.
Die branche boomt: Umsatz von 2, 8 Milliarden
Die Berufsaussichten sind gut, denn die Branche boomt. Mit einem Umsatz von 2, 8 Milliarden Euro pro Jahr ist die deutsche Computerspiel-Industrie zur bedeutendsten Infotainment-Sparte herangewachsen – weltweit liegen die Umsätze vor der klassischen Filmbranche. „Das ist an den meisten Leuten völlig vorbeigegangen“, sagt Professor Marc Latoschik, Inhaber des Lehrstuhls „Mensch-Computer-Interaktion“ an der Universität Würzburg. Doch Computerspiele sind nicht nur zum Wirtschaftsfaktor geworden, seit über 15 Jahren rücken sie als Forschungsgegenstand immer mehr in den Fokus der Wissenschaften.
Ein Blick in die Geschichte zeigt, wie stark sich Computerspiele seit den 60er Jahren weiterentwickelt haben. Die ersten digitalen Spiele waren nicht mehr als einfarbige Punkte, Striche und Linien. Heute sehen Figuren und Kulissen immer echter aus, wodurch manche Spiele Filmen zum Verwechseln ähnlich sehen. Was sich hinter den fast real wirkenden Erlebniswelten verbirgt, ist weniger unterhaltsam. Denn in jedem Computerspiel steckt Mathematik und Informatik – und davon sogar jede Menge. „Viele der Techniken, die die Studierenden erlernen, dienen auch dazu, psychologische Störungen zu behandeln.“
Schwerpunkte: „Game Design“ und „Games Engineering“
Darauf baut auch der „Games-Engineering“-Bachelor in Würzburg auf. Im ersten Jahr stehen die Grundlagenfächer Informatik und Mathematik im Mittelpunkt. Ab dem dritten Semester können sich die angehenden Spieleentwickler in den Schwerpunkten „Game Design“ und „Games Engineering“ spezialisieren. Professor Latoschik: „Die Studierenden lernen die technische Realisierung der heutigen Computerspiele, die auf informatisch sehr hohem Niveau stattfindet.“
Die derzeit sieben Studentinnen und 26 Studenten verbringen ihre Zeit jedoch nicht nur in Vorlesungen und Seminaren. Denn was den Studiengang von vielen anderen unterscheidet, ist die enge praktische Verzahnung. Vom ersten Semester an entwickeln und realisieren sie in sogenannten Game Labs (deutsch: „Spiele Labor“) eigene Spiele. „Wir wissen, welche Anforderungen an einen Games-Programmierer gestellt werden auf dem Arbeitsmarkt“, erklärt Latoschik. Arbeitgeber erwarten bei einer Bewerbung Arbeitsproben. Für die Absolventen bedeutet das, dass sie mindestens ein selbst entwickeltes Spiel vorweisen sollten.
Uni kooperiert mit großen Spieleherstellern
Um das Studium möglichst praxisnah zu gestalten, kooperiert die Uni Würzburg außerdem mit großen Spieleherstellern, wie etwa den Firmen Ubisoft und Bluebyte. Im dritten Studienjahr absolvieren die Studierenden zudem ein mindestens zehnwöchiges Praktikum in einem Unternehmen ihrer Wahl.
Ein Abschluss in „Games Engineering“ ermöglicht, so Latoschik, den sofortigen Einstieg ins Berufsleben. Die Absolventen können allerdings nicht nur in der Computerspielindustrie arbeiten. Er qualifiziert sie für generelle Arbeitsfelder von Informatikern aber auch anderen Branchen, wie etwa in der Medizin. Latoschik: „Viele der Techniken, die die Studierenden erlernen, dienen auch dazu, psychologische Störungen zu behandeln.“
Mehr als nur Ballerspiele
Im Freizeit- und Kulturbereich haben sich Computerspiele längst etabliert. Immer wieder wurde die Branche jedoch kritisiert, insbesondere die sogenannten Ego-Shooter-Spiele – Spiele also, bei denen der Spieler aus der Egoperspektive agiert und mit Schusswaffen andere Spiele oder computergesteuerte Gegner bekämpft. Dabei sind Computerspiele längst mehr als nur „Ballerspiele“ und Infotainment, das zeigen auch aktuellen Projekte des Lehrstuhls Mensch-Computer-Interaktion.
Der Student Michael Habel entwickelte mit weiteren Studierenden ein Übungsprogramm für angehende Lehrer. Mithilfe einer sogenannten Virtual-Reality-Brille (VR–Brille) werden diese in ein Klassenzimmer versetzt, in dem reale Situationen eines Lehreralltags simuliert werden, wie etwa schwätzende und störende Schüler. Darauf muss der Lehrer dann angemessen reagieren. Lehramtsstudenten der Uni sollen das Projekt demnächst zu Übungszwecken testen.
Einsatz in der Psychotherapie
Auch in der Therapie von beispielsweise Angststörungen und Phobien werden VR-Brillen eingesetzt. Eine virtuelle Animation, die an der Uni Würzburg getestet wird, heißt „Cliff Pit“. Bei dieser erscheint dem Träger ein schwindelerregender Abgrund, über den er balancieren und weitere Aufgaben erledigen muss, wie etwa Kugeln links oder rechts von sich berühren. Eigentlich ist das ein absolutes Horror-Szenario für Menschen mit Höhenangst, doch genau diese Simulation soll Menschen helfen, ihre Höhenangst zu überwinden.
Die VR-Brillen sind vergleichbar mit übergroßen 3D-Brillen, die vor den Augen des Trägers eine virtuelles Bild produzieren. Sie sorgen für ein intensives Erlebnis, so dass Therapeuten nicht mit ihren Patienten auf hohe Dächer oder in ein Flugzeug steigen müssen.
Gründerszene in Würzburg
In und um Würzburg hat sich in den vergangen Jahren eine Gründerszene mit einigen Start-Up-Unternehmen etabliert. Ein erfolgreiches Beispiel ist das Unternehmen „HandyGames“ in Giebelstadt. Die beiden Haßfurter Brüder Christopher und Markus Kassulke brachten bereits über 300 Spiele für Mobilgeräte auf den Markt. „Der größte Spielemarkt mit dem größten Umsatz sind im Moment Handyspiele“, sagt auch Professor Latoschik.
Obwohl die Branche immer weiter wächst und die Einsatzgebiete von Computerspielen immer vielfältiger werden, haben sich entsprechende Studiengänge nur zögerlich entwickelt. „Wir wollen einen solchen Studiengang schon seit rund acht Jahren einrichten“, erzählt Latoschik. Doch zu diesem Zeitpunkt sei das politisch noch nicht opportun gewesen. Mittlerweile nimmt der Freistaat Bayern 1,4 Millionen Euro in die Hand, um den Studiengang für die nächsten sechs Jahre zu fördern. Den Studiengang „Games Engineering" gibt es aktuell nur in Bayern. Neben Würzburg bieten den Studiengang die Hochschulen München und Kempten an.
Unterschiedliche Genres
Computerspiele haben sich in den vergangenen 50 Jahren zu einer der einflussreichsten Freizeitbeschäftigungen entwickelt. Wie bei Literatur und Film lassen sich unterschiedliche Genres ausmachen. Schwerpunkte der Universität Würzburg sind die sogenannten Immersive Games sowie hochinteraktive multimodale Systeme im sogenannten Social, Serious oder Mixed Reality Gaming.
Immersive Games sind Spiele, bei denen der Benutzer in eine virtuelle Welt eintaucht und dort interagiert. Das Genre der Ego-Shooter wird beispielsweise grundsätzlich aus der Ich-Perspektive gespielt, bei der die virtuellen Realitäten oft intensiv erlebt werden.
Social Games können gemeinsam mit Freunden und Bekannten gespielt werden. Sie werden meist auf sozialen Netzwerken gespielt, wie beispielsweise „Farmville“ auf Facebook.
Serious Games sind Spiele, die vor allem Bildungszwecke verfolgen und nicht in erster Linie der Unterhaltung dienen. Sie werden in unterschiedlichen Bereichen wie Bildung, Bewegungstherapie, Militär und vielen weiteren eingesetzt.
Mixed Reality Games erweitern die Umgebung der Spieler durch virtuelle Objekte. Studierende am Lehrstuhl Mensch-Computer-Interaktion entwickelten beispielsweise das Projekt XRoads, eine Mixed Reality-Plattform, die Elemente eines klassischen Brettspiels mit virtueller Realität verbindet. Die Spieler agieren auf einem Multitouch-Tisch, der sich wie ein Touchscreen bedienen lässt. jas


