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Würzburg
30 Jahre Internet: Über die Hoffnungen von einst und die größte Gefahr
Was aus World Wide Web einmal werden würde – keiner hätte es vor 30 Jahren gedacht. Informatikprofessor Phuoc Tran-Gia über Hoffnungen von einst – und die größte Gefahr.
30 Jahre World Wide Web: Informatikprofessor Phuoc Tran-Gia über die Anfänge des Internets
Foto: Thomas Obermeier | 30 Jahre World Wide Web: Informatikprofessor Phuoc Tran-Gia über die Anfänge des Internets
Alice Natter
 |  aktualisiert: 27.04.2023 07:59 Uhr

Das Internet hat viele Geburtstage. Alles beginnt in den 1970er Jahren mit der Entwicklung des Transmission Control Protocols/Internet Protocols (TCP/IP), das die Übertragung der Daten im Internet regelt. Am 12. März 1989 trug dann Tim Berners-Lee am CERN in Genf sein Konzept vom World Wide Web, das "www", vor: das Hyperlink-Text-System. Als zweiten Geburtstag sieht der Würzburger Professor Phuoc Tran-Gia den 6. August 1991, als Berners-Lee das www als erste Webseite unter info.cern.ch zur Verfügung stellte. "Das 'Times'-Magazin hatte damals eine große Aufmachung dazu. Für mich ist der Tag, an dem die erste Webseite öffentlich und weltweit verfügbar wurde, der Tag, ab dem alles seinen Lauf nahm", sagt der Informatikprofessor, der von 1988 bis 2018 an der Universität Würzburg den Lehrstuhl für Informatik III (Kommunikationsnetze) leitete.

Professor Tran-Gia, wo waren Sie am 12. März 1989? Und wie schnell haben Sie vom www erfahren?

Prof. Phuoc Tran-Gia: Am Lehrstuhl in Würzburg. Am Anfang waren aber die E-Mails: Die habe ich 1986, 1987 zum ersten Mal benutzt, bei IBM. Sie werden jetzt darüber lachen, weil wir E-Mails heute in Megabyte- oder Gigabyte-Größenordnung nutzen. Aber damals waren es ein paar Bytes, die wir innerhalb der Firma verschicken konnten, intern, zwischen den Standorten der IBM-Forschung. Da wurden Daten zu Knoten im Netz weitergereicht und irgendwann landeten sie bei den Kollegen in New York. Darüber haben wir uns gefreut wie Kinder! Aber wir hätten uns kaum vorstellen können, was das Ganze für Konsequenzen haben wird für die Gesellschaft. 1989 war ich an der Universität Würzburg mit dem Aufbau des Lehrstuhls beschäftigt. Und irgendwann kam eine Kollegin aus Aachen, eine Spezialistin für Rechnernetze, und fragte: Kennst Du so etwas wie Internet?

Und, kannten Sie es?

Tran-Gia: Dann schon. Wir haben das bald ausprobiert, zunächst rein aus fachlichem Interesse. Wir haben uns langsam mit den ersten Browsern vertraut gemacht und sie in der Uni eingeführt. Das Internet war eigentlich nur für eine Handvoll von Fachleuten interessant. Deshalb war die Informationsweiterleitung noch verwirrend, die Sicherheit gar nicht durchdacht.

Die Grundidee war doch, dass sich Wissenschaftler austauschen wollten, oder?

Tran-Gia: Genauer gesagt: dass Physiker ihre Messreihen austauschen wollten. Tim Berners-Lee wollte eigentlich nur, dass man in einem Dokument einen Punkt markieren kann, um von einem anderen Dokument aus "rüberspringen" zu können. So sollten die Datensätze der physikalischen Messungen miteinander vernetzt werden. Er hätte sicher nicht gedacht, was das für eine Riesenanwendung für die Gesellschaft werden würde. In der Technik werden solche sogenannten disruptiven Entwicklungen, die etwas Bestehendes auflösen oder zerstören, häufig unterschätzt – oder nicht richtig eingeschätzt. Beim Telefon ging es auch erst darum, ein Konzert aus der Entfernung zu hören. Dass man damit kommuniziert und die Welt umpflügt – unvorstellbar. Eine ähnliche Erfindung, die noch viel verändern wird, ist das "Internet der Dinge", vor allem in Zusammenhang mit künstlicher Intelligenz. Wir versuchen immer, aus der Vergangenheit in die Zukunft zu blicken, aber das führt immer zu sehr ungenauen oder falschen Einschätzungen.

Wann war Ihnen klar, dass das Internet unsere Welt, unseren Alltag verändern wird?

Tran-Gia: Das ist ein Prozess, es gibt für mich keinen konkreten Zeitpunkt. Für den normalen Nutzer, für die Gesellschaft, begann die große Veränderung wahrscheinlich, als die Smartphones auf den Markt kamen. Dadurch ist das Volumen, der Datenverkehr, wirklich exponentiell rasant gestiegen. Vorher suchte man immer nach der sogenannten Killer-Applikation. Jahrelang fragte man: Wann kommt diese Killer-Applikation, die das Internet an ihre Grenzen führt. Dann kommt der Killer – und niemand merkt es so richtig.

Der Killer?

Tran-Gia: Apple und iPhones zum Beispiel. Apple hat diese Menge an Datenaustausch ermöglicht. Mit Killer meinen wir die Applikationen, die mit den Smartphones kommen. Videoübertragungen, Streaming, YouTube, Netflix und Co – diese Menge bringt das Internet an die Grenzen der Leistungsfähigkeit, der Übertragungskapazität. Aber, wenn wir schon dabei sind: Es war eine ziemlich demokratische Entwicklung. Aber leider wird das Internet auch zunehmend dazu missbraucht, um die Demokratie zu gefährden. Das ist es, was mich im Moment ein bisschen betrübt.

Was ist Ihre Sorge? 

Tran-Gia: Wir müssen damit rechnen, dass das Internet entzweit wird oder dass es mehrere politische oder wirtschaftlich getrennte Teilnetze gibt, die wenig oder nichts mehr miteinander zu tun haben. Die Ursache ist, dass wichtige Anwendungen im Internet von einigen Großfirmen dominiert und von Regierungen kontrolliert werden. In einigen Ländern Asiens können Sie zum Beispiel Facebook nicht mehr nutzen. Und umgekehrt wird manche, zum Beispiel chinesische Hardware in bestimmten Ländern nicht mehr zugelassen. Der Traum von 1989 und der 1990er Jahre – ein weltumspannendes Netz, jeder kann alles benutzen – ist durch zwei Entwicklungen zerstört worden: Daten-Monopole und Hard- und Software-Monopole. Erst spät merkt man, dass das Internet dazu prädestiniert zu sein scheint, dass Monopole entstehen. Plötzlich ist das Netz nicht mehr für alle da, sondern die Inhalte haben nur ein paar wenige Leute.

Dass Monopole entstehen, die alles beherrschen und kontrollieren – war das absehbar?

Tran-Gia: Das Internet war ja verteilt realisiert. Die Steuerung des Internets ist nirgends lokalisierbar. Wenn man es im Griff haben will, müsste die Kontrolle auch zentralisiert werden. Das ist – noch – schwer vorstellbar.

Aber widerspricht das nicht völlig dem Grundgedanken, des Dezentralen?

Tran-Gia: Nein, die Daten bleiben verteilt. Aber die Steuerung auf der technischen Netzebene soll zentralisierter sein, darüber wird in den letzten zehn Jahren sehr stark geforscht. Wenn diese neuartigen Systeme – zum Beispiel mittels Software-defined Networking, das Hard- und Software entkoppelt – richtig funktionieren, haben wir wohl einige Probleme weniger.

Server im Informatikgebäude an der Universität Würzburg
Foto: Ivana Biscan | Server im Informatikgebäude an der Universität Würzburg

Was ist die größte Errungenschaft?

Tran-Gia: Dass Informationen, Informationsstücke, vernetzt werden zu etwas Größerem. Das ist zum Teil auch gelungen. Nur, wenn man vernetzt, gibt es leider Firmen die diese Summe an Informationen zu sich holen und kontrollieren wollen. Die meisten denken beim Internet an das World Wide Web, die Zugangsnetze und Übertragungskapazität. Aber das Tolle am Internet ist die Vernetzung der Information dahinter. Das ist die Errungenschaft, die das Ganze wirklich interessant macht.

Der größte Mangel?

Tran-Gia: Es gibt zurzeit keinen richtigen Mangel. Es gibt nur zunehmend Möglichkeiten, das Netz zu missbrauchen.

Die größte Fehlentwicklung?

Tran-Gia: Die Entwicklung verläuft verteilt. Es gibt keine singuläre Firma oder einen Forschungsmanager, der das Ziel vorgibt. Wir entwickeln das Internet dahin oder dorthin. Viele Entwicklungen sind nicht vorhersehbar. Denken sie an Skype. Da saßen drei, vier Studenten zusammen, haben eine Software entwickelt und ins Netz gestellt. Und plötzlich war ein Geschäftsmodell von früher, die Telefonie, total obsolet. Die Telekom macht jetzt kein Geschäft mehr mit dem Telefonieren, sondern mit anderen Dienstleistungen. Zukünftig wird im Bereich Künstliche Intelligenz genau dasselbe passieren: dass bestimmte Entwicklungen einfach vorangetrieben werden, ohne dass jemand vorher steuert.

Hatten Sie Anfang der 1990er Jahre irgendwelche Erwartungen, Vorstellungen gehabt, wie es weiter gehen könnte?

Tran-Gia: Wir haben gehofft, dass die Monopol-Struktur in der Telekommunikation aufgebrochen wird.

Und jetzt gibt es wieder Monopole...

Tran-Gia: Hoffentlich werden wir die großen Internet-Konzerne einigermaßen in Schach halten können. Ohne die Entwicklung von unten, von kleinen Firmen, normalen, eher autonomen Entwicklungsteams, wird das Netz nicht in eine Richtung entwickelt werden können, bei der für die Menschheit etwas wirklich Sinnvolles herauskommt.

30 Jahre – verlief die Entwicklung aus Ihrer Sicht schnell?

Tran-Gia: Sehr schnell. Schneller als wir alle denken können. Und das ist das Problem. Es wird ja immer gesagt, dass fünf Internet-Jahre in ein normales Kalenderjahr passen. Es scheint zu stimmen.

'Amazon war für mich wirklich eine komplette Überraschung': Professor Phuoc Tran-Gia
Foto: Thomas Obermeier | "Amazon war für mich wirklich eine komplette Überraschung": Professor Phuoc Tran-Gia

Was war für Sie die größte Überraschung in den vergangenen 30 Jahren?

Tran-Gia: Die größte Überraschung ist, dass es "das" Internet-Kaufhaus gibt, das alles dominiert. Das alles verkauft mit Erfolg – und die anderen Kaufhäuser kaputt macht. Das hätte ich nie so gedacht, dass das machbar ist. Amazon war für mich wirklich eine komplette Überraschung.

Gibt es etwas, was Sie selbst im Internet nicht machen würden? Online-Banking, Internetshopping, aus der Ferne den Kühlschrank zuhause steuern?

Tran-Gia: Es gibt so witzige Vorstellungen vom Internet der Dinge. Ich sehe da keine Gefahr, wenn man genau weiß, was man tut. Was ich mit Sorge beobachte: autonomes Fahren. Automatisiertes Fahren ist okay. Aber autonomes Fahren, zusammen mit Datenströmen – darüber mache ich mir große Gedanken.

Was ist bislang die größte gesellschaftliche Veränderung durch das Internet?

Tran-Gia: Dass die Information durchwegs überall verfügbar ist. Als kleiner Junge in Vietnam hatte ich überhaupt keine Vorstellung, wie es in Mitteleuropa, in Berlin aussieht. Wenn ich jetzt nach Vietnam fliege: Da wissen alle junge Leute dank Internet, wo die Gedächtniskirche ist, dazu braucht es nur zwei Klicks. Die Migrationsbewegungen werden so durch das Internet beschleunigt. Ob das gut ist oder nicht, darüber haben wir nicht zu urteilen.

Und in unserem Alltag? Wie anders leben wir heute als vor 30 Jahren?

Tran-Gia: Auch wenn man das Internet wenig nutzt – man ist ziemlich abhängig davon. Arbeitsweisen haben sich völlig verändert. Das Internet macht das Leben einfacher, es spart viel Zeit – aber was machen wir mit dieser Zeit? Wird das durch die Optimierung erwirtschafte Kapital auch fair verteilt?

Wenn Sie einen Wunsch hätten, wie die Entwicklung weiter geht?

Tran-Gia: Dass das Netz eine Einheit bleibt. Und dass die Qualität der Informationen nicht schlechter wird. Man wird Fake News nie ganz verhindern können, die politische Strömungen lenken. Aber ich hoffe, dass Information künftig besser und nutzbarer wird.

Ein Leben ohne Internet – für Sie noch vorstellbar?

Tran-Gia: Da denke ich gar nicht mehr daran. Ich hatte mir mehrmals ein oder zwei Wochen Internet-Abstinenz vorgenommen. Am Anfang hat es geklappt. Aber jetzt hat man überall auf der Welt so gute Verbindungen. Man braucht im letzten Winkel irgendwo in einem fernen Land nur das iPad aufklappten – schon ist es da. Dann ist es vorbei mit der Internet-Abstinenz.

Prof. Phuoc Tran-Gia
Der Diplomingenieur und Informatiker, 1953 in Da-Nang in Vietnam geboren, studierte Elektrotechnik an der Universität Stuttgart und arbeitete bis 1978 als Systemsoftware-Ingenieur bei Standard Elektrik Lorenz in Stuttgart. Nach der Promotion leitete er von 1983 bis 1986 in Stuttgart eine Forschungsgruppe am Institute of Communications Switching and Data Technics. Von 1986 bis 1988 forschte er in Zürich bei der IBM Research Division. An der Universität Würzburg war Tran-Gia ab 1985 zunächst Dozent für Computer-Netzwerke. Von 1988 bis 2018 leitete er denLehrstuhl für Informatik III (Kommunikationsnetze). 2016 wurde er mit dem "Arne Jensen Lifetime Award" ausgezeichnet, der an Persönlichkeiten vergeben wird, die sich in der Forschung um die Modellierung, Kontrolle und Leistungsfähigkeit des Datenverkehrs verdient gemacht haben.
 
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