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Ochsenfurt
3. Oktober: Kein Freudentag für die Linke Simone Barrientos
Als Jugendliche wurde sie von der Stasi bespitzelt. Warum die Abgeordnete aus Ochsenfurt zum Jahrestag der Einheit dennoch einen differenzierten Blick auf die DDR fordert.
Eine Ochsenfurterin mit DDR-Sozialisation: Simone Barrientos ist seit 2017 Bundestagsabgeordnete der Linken.
Foto: Thomas Obermeier | Eine Ochsenfurterin mit DDR-Sozialisation: Simone Barrientos ist seit 2017 Bundestagsabgeordnete der Linken.
Michael Czygan
 |  aktualisiert: 08.02.2024 21:26 Uhr

Seit 2017 sitzt Simone Barrientos für die Linke im Bundestag, sie ist kulturpolitische Sprecherin ihrer Fraktion. Die 56-jährige Politikerin ist in Neustrelitz in der DDR aufgewachsen. Ausgebildet als Elektrikerin und Gebrauchswerberin, kam Barrientos in der Wendezeit nach Berlin, wo sie unter anderem als Bauzeichnerin, Spanisch-Dolmetscherin und Verlegerin tätig war. 2014 zog sie nach Ochsenfurt (Lkr. Würzburg) und begann dort, sich bei der Linken parteipolitisch zu engagieren. Drei Jahre später wurde sie über die bayerische Landesliste in den Bundestag gewählt.

Frage: Frau Barrientos, wo waren Sie am 3. Oktober 1990?

Simone Barrientos: Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Wahrscheinlich saß ich zuhause vor dem Fernseher und habe mich geärgert.

Wie? War die Wiedervereinigung für Sie als Bürgerin der DDR kein Freudentag?

Barrientos: Der Fall der Mauer am 9. November 1989, das war für mich und andere Oppositionelle in der DDR ein Tag zum Feiern. Aber diese Art der schnellen Vereinigung, die hat vielen, auch mir, nicht gefallen. Die Bundesrepublik wurde dem Osten einfach übergestülpt. Da wurde die Chance vertan, Errungenschaften der DDR für das gemeinsame Deutschland zu übernehmen.

Die Mehrheit der DDR-Bürger sah das anders.

Barrientos: Damals war das so. Aber im Rückblick fühlen sich doch viele Menschen im Osten über den Tisch gezogen. Ihre Lebensleistung zählte von einem Tag auf den anderen nichts mehr. Der Westen dominierte plötzlich alle Lebensbereiche. Eine bittere Erfahrung, die sich bis heute auswirkt. Löhne und Renten sind immer noch nicht überall gleich.

"Vom gleichberechtigten Miteinander der Geschlechter in der DDR hätte der Westen einiges lernen können." 
Simone Barrientos, Bundestagsabgeordnete der Linken
Was hätten Sie von der DDR übernommen?

Barrientos: Frauen zum Beispiel waren deutlich besser gestellt. Unter anderem waren Schwangerschaftsabbrüche legal. Gleichzeitig war die Kinderbetreuung gesichert. Es war selbstverständlich, dass Frauen arbeiten und wirtschaftlich unabhängig von ihren Männern sind. Vom gleichberechtigten Miteinander der Geschlechter in der DDR hätte der Westen einiges lernen können. Bis heute herrscht da Nachholbedarf.

Als ehemalige Verlegerin und jetzt kulturpolitische Sprecherin der Linken im Bundestag beklagen Sie den Kahlschlag der DDR-Kultur.

Barrientos: Bücher aus dem Osten sind tonnenweise auf dem Müll gelandet. Das waren beileibe nicht nur marxistische und leninistische Schriften, großartige Literatur war darunter. Die Verlage aus dem Westen bestimmten von oben herab, welche Titel in die Regale der Buchhändler kamen. Uns hat keiner gefragt. Andere Branchen haben ganz ähnliche Erfahrungen gemacht. Es kommt nicht von ungefähr, dass es in den Spitzenpositionen der Wirtschaft und der Wissenschaft kaum Menschen gibt, die ostdeutsch sozialisiert sind.

"Die DDR zu dämonisieren, wird der Lebensrealität vieler Menschen nicht gerecht." 
Simone Barrientos, Bundestagsabgeordnete der Linken
War denn die DDR für Sie ein Unrechtsstaat? Der Begriff ist in der Linkspartei bekanntlich umstritten.

Barrientos: Keine Frage, in der DDR ist vielen Menschen ganz viel Unrecht geschehen. Da gibt es nichts zu beschönigen. Auch ich durfte nicht studieren, weil mich die Stasi als „negativ dekadente Jugendliche“ charakterisierte. Stattdessen habe ich im Erstberuf Elektrikerin gelernt. Trotzdem wehre ich mich gegen Pauschalurteile, die so ein Etikett wie Unrechtsstaat mit sich bringt. Ich glorifiziere die DDR keinesfalls, es gab keine freien Wahlen, auch keine Meinungsfreiheit. Aber diesen Staat zu dämonisieren, wird der Lebensrealität der Menschen auch nicht gerecht. Ich plädiere für einen differenzierten Blick auf die ostdeutsche Gesellschaft. Trotz allem habe ich mir Freiräume erkämpft, ich war Teil einen lebendigen Subkultur. Vielen anderen ging es ähnlich.

Simone Barrientos bei einer Podiumsdiskussion im Kommunalwahlkampf 2020.
Foto: Fabian Gebert | Simone Barrientos bei einer Podiumsdiskussion im Kommunalwahlkampf 2020.
Vor einem Jahr haben Sie erstmals Einblick in ihre Stasi-Akte genommen. Warum so spät?

Barrientos: Ich wollte mir Kummer ersparen, weil ich damit rechnete, dass Leute aus meinem Umfeld als Spitzel tätig waren. Als dann, zum 30. Jahrestag des Mauerfalls, die Ost-West-Debatte wieder an Fahrt aufnahm, hat es mich doch gejuckt.

Und? Sind Sie überrascht worden?

Barrientos: Ich habe erst einen Teil der Akten lesen können. Erstaunt hat mich, wie sehr ich schon als junges Mädchen in Neustrelitz, also in der mecklenburgischen Provinz,  überwacht wurde. Ich sei ein „Sympathisant Pazifismus“ hieß es. Gerührt war ich, als ich den Brief wieder lesen konnte, den ich einem Freund geschrieben hatte, der vom Westen freigekauft wurde. Da wurden sehr private Erinnerungen wach.

"Es sollte nicht mehr die erste Frage sein, ob man aus Mecklenburg oder Franken stammt." 
Simone Barrientos, Bundestagsabgeordnete der Linken
Sie streiten dafür den Osten nicht ins Abseits zu drängen. Dabei haben Sie selbst 2014 in den Westen „rübergemacht“ und sind nach Unterfranken gezogen.

Barrientos (lacht): Erwischt. Nein, mein Lebensweg zeigt doch, dass es möglich ist, im Westen zu wohnen, ohne seine Ost-Biografie zu verleugnen. Im öffentlichen Leben sollte es nach 30 Jahren Einheit nicht mehr die erste Frage sein, ob man aus Mecklenburg oder Franken stammt.

Warum aber Ochsenfurt?

Barrientos: Nach 30 Jahren in Berlin waren die Mieten unbezahlbar geworden. Da haben mein Partner Leander Sukov und ich in ganz Deutschland nach Alternativen gesucht. Ochsenfurt hat sich dann zufällig ergeben. Wir haben die Stadt vorher nicht gekannt. Heute sind wir sehr glücklich hier.

 
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  • argzahn161
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  • kritischerbeobachter
    Frau Barrientos gehört zu denen, die das wesentliche Kennzeichen der DDR kleinredet, nämlich dass dieser Staat auf die Herrschaft des Unrechts aufgebaut war und deswegen ein Unrechtsstaat war. All dies wird in ihren jämmerlichen Aussagen relativiert. Damit ist sie nicht allein. Kipping sprach heuer anlässlich des 13. August davon, dass Menschen die DDR „verlassen“ wollten - reine Geschichtsklitterung. Sie flohen vor dem Unrecht und der Armut. Auch Gysi hat sich heute wieder mal sehr relativierend geäußert.
    Warum sitzt Frau B. Überhaupt im Bundestag? Dies verdankte sie 2017 einem Überhangmandat. Bleibt zu hoffen, dass doch noch eine - wenn auch kleine - Wahlrechtsreform die Zahl der Mandate bei den nächsten Wahlen endlich beschränkt. Dann dürfte diese so munter daherschwadronierende Person hoffentlich aus dem Parlament verschwinden.
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  • Doedi.wue
    Letsgo101
    … Schlangenstehen war in der DDR nicht erst gegen Ende angesagt, man stand dort schon immer vor Geschäften an.Man stand vor den Metzgereien an,um an die letzte Renommierwurst zu kommen als auch am grünen Markt um Petersilie zu ergattern! Nur wer Beziehungen hatte bekam es „unter der Ladentheke“!DDRler nannten es „Bückware“!
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  • letsgo101
    Es ist leider so das man hier bei den Kommentaren nur eine gewisse Anzahl von "Zeichen" schreiben kann. Somit konnte ich den Kommentar auch nicht zu Ende schreiben !
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  • Michael Fischer
    Frau Merkel war doch zu DDR Zeiten auch in der FDJ Abteilung. Aber danach geforscht wurde nie. Über Gysi und andere Genossen wurde immer nachgegraben. Seltsam
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  • lapporten
    Geschichtsklitterung pur. Schade, dass dieser Frau hier so eine Plattform geboten wird.
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  • letsgo101
    Die gute Frau sollte doch einmal ehrlich sein mit ihren Aussagen. Die DDR war so kaputt das auch Russland nichts mehr heraus ziehen konnte. Über die Hälfte der Industrieanlagen war verschlissen, bei den Straßen und Bahnen sah es nicht besser aus. Zwei Drittel der landwirtschaftlichen Maschinen und Gerätschaften waren kaputt. Bauern, deren Scheunen über ihren Köpfen zusammenbrachen, waren keine Seltenheit. Hinzu kommt: Der ostdeutsche Staat hatte 49 Milliarden D-Mark Schulden alleine im westlichen Ausland. Um die Schulden tilgen zu können, hätte der Export gestärkt werden müssen. Dafür hätten die DDR-Bürger ihren Konsum um 25 bis 30 Prozent zurückfahren müssen. Dabei litt die Bevölkerung bereits unter der Mangelwirtschaft. Denn nicht nur Autos und Südfrüchte waren knapp. Es fehlte auch an Schuhen, Kühlschränken oder Damenunterwäsche. Gegen Ende der DDR waren Schlangen vor Geschäften keine Seltenheit, ganz gleich, was im Angebot war.
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  • saf.wuerzburg@t-online.de
    Wundert mich überhaupt nicht.

    Als Mitglied der Linken muss man ja der DDR nachtrauern.
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  • engert.andreas@gmx.de
    Es ist schon interessant und lässt auch tief blicken- als verlorene „Errungenschaft“ der DDR bzw Verlust für die Frauen zu nennen, dass Abtreibung - also das Töten eines ungeborenen Kindes - nicht mehr legal ist
    Damit hat sich diese Dame selbst disqualifiziert
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  • mponline
    Die ewig Gestrigen: "Es war ja nicht alles schlecht ..." Und was ist mit den Mauertoten?
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  • Funkenstern
    Ich mag weder die Argumentationen dieser Person noch die Ideologie, die sie vertritt. Genau deswegen kann man sie ignorieren, so wie die Partei, für die sie einstehen will. Ich verstehe sowas nicht, habe aber auch nicht studiert.
    Mit meinem Verständnis ist sie eine Persona non grata.
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  • rft@rudolf-thomas.de
    Könnte es nicht sein, dass uns in der Ära Merkel die DDR übergestülpt wurde?
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  • Helmut_Faul_HF2017
    Selbst unter dem SED-Regime gelitten, aber dann der SED-Nachfolgepartei beitreten. Das soll noch einer verstehen.
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  • asazyma
    Legaler Schwangerschaftsabbruch,„Kinderbetreuung“, Frauen, die sofort wieder arbeiten gehen, tolle Errungenschaften, gerade angesichts der kranken Ideologie, die hinter diesen steckte. Vielleicht überlässt man den differenzierten Blick auf die DDR Leuten, die nicht in der SED/PDS/Linkspartei/Die Linke (wie sie eben gerade heißt) aktiv sind und diese Diktatur zu (v)erklären versuchen.
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