
Die Szene wirkt skurril, sogar etwas unheimlich: Ein älterer Herr streift in den Abendstunden durch die engen Gassen der Altstadt, gekleidet mit einem schwarzen Umhang. Unter der Kapuze, im Schein des Kerzenlichts, ist ein grimmiger Blick zu erkennen. In der einen Hand hält er eine Laterne, in der anderen eine Hellebarde, an seinem Bauch baumelt ein kleines Horn.
Willkommen zurück im Mittelalter von Gerolzhofen! Aber keine Sorge, es droht keine Gefahr, trotz Waffe in der Hand. Es handelt sich um ein neuartiges Angebot der Tourist-Informationen in Gerolzhofen – eine Nachtwächterführung. In das Gewand schlüpft seit Anfang März Erich Walter. Der nächste Termin steht am 5. April an.
Erich Walter hat sich die Echter-Zeit ausgesucht
Der 70-Jährige aus Dingolshausen hatte auch die Idee für diese Themenführung. Schon vor zwei Jahren ließ er sich zum Gästeführer in Schweinfurt ausbilden; dort bietet er ebenfalls eine Nachtwächterführung an, die allerdings die Anfänge der Industrialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts zum Thema hat.
"Das macht mir Spaß, ich bin ein Mensch, der gerne auf Leute zugeht und Gruppen führt", erzählt der frühere Verkaufsleiter einer Futtermittelfirma bei einem Gespräch mit dieser Redaktion. Was also in der Kugellagerstadt möglich ist, dachte sich Walter, das würde auch Gerolzhofen gut zu Gesicht stehen – mit seiner schönen Altstadt, der historischen Stadtmauer und dem mittelalterlichen Flair.
Gedacht, getan, und so kamen er und die Tourist-Information schnell überein. Länger jedoch dauerte die Konzeption der Tour. Gut ein halbes Jahr las er sich ein in die Geschichte der Stadt, besonders in die Zeit vor 400 Jahren, in der seine Nachtwächter-Figur nun durch die Gassen streift. Walter ließ sich zudem von profunder Stelle beraten, tauschte sich mit Eva-Maria Bräuer aus, die früher die "Gerolzhöfer Nachtwächtersfraa" spielte.
Herausgekommen ist eine Führung, die um das Jahr 1615 spielt. Es ist die Zeit von Fürstbischof Julius Echter, der seine Spuren auch vor Ort hinterlassen hat. Nachtwächter Walter führt seine Besuchergruppen an einigen Gebäuden vorbei, die Echter prägte oder die in Beziehung zu ihm stehen: darunter das alte Spital, das in dessen Ägide runderneuert wurde, sowie die ehemalige Amtsvogtei, die Echter umbauen und erweitern ließ, und das heutige Museum Johanniskapelle, das ehemals die Kirche des alten Friedhofs an der Stadtpfarrkirche war.
Gerolzhofen von 1615 wird wieder lebendig
Weitere Hauptaspekte seiner Führung sind die religiösen Unruhen während der Gegenreformation sowie die Hexenprozesse, die jene Epoche prägten. Bei aller Tragik will Walter den Teilnehmenden das damalige Gerolzhofen "lebendig machen". Mit kleinen Anekdoten, die er sich selbst ausgedacht hat, lockert er die Fakten auf oder zieht Vergleiche in die Neuzeit.

Mal erzählt er von Ablässen, die er sich als armer Nachtwächter nicht leisten kann, dann von seinem früheren "Mädla", einer Lutheranerin, die mit ihren Eltern aus der Stadt vertrieben wurde; und davon, was die von Echter beauftragte Architektur mit dem heutigen seriellen Bauen zu tun hat.
Immer wieder streut Erich Walter "Geschichtli" ein, um das Leben und den Alltag zu beschreiben. Und lässt Geheimnisvolles nicht aus, wie etwa einen verruchten Ort am Ende der Salzstraße. Selbst das vor einigen Jahren erst entstandene "Gerolzhöfer Loch" am Wilden Mann findet Einzug in seine Tour. Um seiner Nachtwächterfigur eine gewisse Authentizität zu verleihen, kommt sie im fränkischen Dialekt daher.
Und was wäre eine solche Tour ohne das Nachtwächterlied, das den Menschen früher mitteilte, welche Stunde es gerade geschlagen hat. Alle Strophen von "Hört, ihr Herrn, und lasst euch sagen" hat Walter auswendig gelernt, sagt er voller Stolz.
Zugutekommen ihm beim Singen seine Erfahrungen aus dem Chor der Musikschule, in dem er früher aktiv war. Sein Abitur hat er sogar im Fach Musik gebaut, verrät er nebenbei, und damals Klavier gespielt – "aber nur bis vor 50 Jahren", sagt der mittlerweile 70-Jährige mit einem Augenzwinkern.
Leutselig und redselig
Wichtig ist ihm, dass der von ihm dargestellte Nachtwächter menschliche Züge trägt. Wie ist er denn so? "Ein Freigeist, der seine Gedanken schweifen lässt, gerne auf die Leute zugeht und redselig ist, weil er nachts oft alleine unterwegs ist", so umschreibt er seine Figur.
Damit sie zugleich äußerlich authentisch daherkommt, hat er sich passende Utensilien besorgt. Kein selbstgenähter Umhang, so wie in früherer Zeit. Sondern er hat es ganz neuzeitlich gehandhabt. Walter lacht, als er darüber spricht: "Bestellt habe ich alles im Internet."