Seit einiger Zeit beobachtet Günter Hübner von seiner Wohnung aus ein Reh-Rudel, das sich mehrere Stunden am Tag auf einem Feld auf der südlichen Mainseite in der Nähe des Reichelshofs aufhält und dort nach Nahrung sucht. Vor dem Schnee- und Kälteeinbruch waren es 25 Tiere, inzwischen sind es 35. "Vermutlich finden die Tiere zu wenig Nahrung im Wald und nutzen die Möglichkeit dieses Feldes", mutmaßt Hübner.
In Notzeiten dürfen Jäger und Förster Wildtiere füttern. So steht es im Bayerischen Jagdgesetz. Haben wir im Moment eine solche Notzeit? Hungern die Tiere? "Nein", sagt Rainer Abele, der Vorsitzende des Jagdschutzvereins Schweinfurt. Im Wald sei noch genug Nahrung da. Auch der Schnee sei noch locker genug, so dass die Tiere problemlos an krautige Pflanzen oder an die am Boden liegenden Eicheln oder Bucheckern kommen können. Abele sieht die Wildtiere aktuell in einer ganz anderen Notsituation: "Es sind die Spaziergänger, die das Wild stören." Gerade jetzt im Corona-Lockdown seien viele Erholungssuchende und Sportler in der Natur unterwegs. Fürs heimische Wild kann das dramatische Folgen haben, vor allem wenn Wanderer nicht auf den Wegen bleiben. Die Tiere werden dann ständig aufgescheucht, sind permanent auf der Flucht und verbrauchen ihre Energiereserven. Und das kann schnell zur tödlichen Gefahr werden.
Wolfgang Schmitt kennt solche Situationen zur Genüge. "Um Mitternacht taucht plötzlich jemand mit Stirnlampe im Wald auf", berichtet der Jäger aus Eßleben. "Und tagsüber verscheuchen querfeldein laufende Wanderer das Wild." Das tut dem Wild nicht gut. Denn im Winter haben die Tiere ihren Stoffwechsel auf Notzeit umgestellt. Sie senken die Körpertemperatur ab und bewegen sich so wenig wie irgend möglich, um Energie für das Überleben zu sparen. Bei Rehen ist es sogar so, dass sie eine sogenannte Eiruhe einhalten. In dieser Zeit entwickelt sich der Fötus nicht weiter, so dass die Geiß ihre Kitze erst zu Beginn der für die Aufzucht günstigen Jahreszeit setzen kann. Der Energiesparmodus funktioniert aber nur, wenn die Tiere ungestört bleiben können. Wird das Wild aufgeschreckt, flüchtet es. Und das zehrt am lebensnotwendigen Energievorrat.
"Ich habe Rehe beobachtet, die drei- bis viermal versucht haben, aus dem Wald zu kommen", erzählt Schmitt, der auch Jagdfachberater der Unteren Jagdbehörde am Landratsamt Schweinfurt ist. Immer wieder seien sie von Menschen verschreckt worden. Die Tiere flüchten dann dorthin, wo es kein Futter gibt, verbrauchen Energie und laufen Gefahr, den Winter nicht zu überleben.
Spaziergänger sollen auf ausgewiesenen Wegen bleiben
"Die Tiere brauchen jetzt Ruhe", appelliert auch Stephan Thierfelder, der für den Forst zuständige Bereichsleiter beim Amt für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten in Schweinfurt, an Erholungssuchende, bei Spaziergängen auf den ausgewiesenen Wegen zu bleiben und Hunde anzuleinen, damit sie das Wild nicht aufscheuchen. "Im Straßenverkehr sind wir zur Vorsicht und Rücksicht erzogen, die gleiche Kompetenz sollten wir uns für die Natur aneignen."
Die "Notsituation" des Wildes ist im südlichen Landkreis Schweinfurt um einiges schlimmer, weil Rehe und Wildschweine in der waldarmen Region weniger Schutz finden. "Wir haben hier viele Feldreviere", erklärt Schmitt. Und weil bei der Flurbereinigung in den 1970er- und 1980er-Jahren auch die schützenden Feldholzstreifen beseitigt wurden, finde das Wild hier wenig Rückzugsraum. Im Frühjahr und Sommer bieten die Getreideäcker noch Deckung, doch nach der Ernte im Herbst "geht die Stresssituation für die Tiere schon los". Wenn dann, wie jetzt, verstärkt Spaziergänger "kreuz und quer" durch die Landschaft laufen, komme das Wild überhaupt nicht mehr zur Ruhe.
Um den Tieren das Überleben zu sicheren, wird deshalb im südlichen Landkreis in solch strengen Wintern wie in diesem Jahr das Wild gefüttert. Rehe bekommen Getreidemüsli, Hasen Zuckerrüben zum Knabbern. "Wir wollen dem Wild helfen", verweist Schmitt auf "die besondere Situation".
Notsituationen können auch im Sommer auftreten
Im waldreichen Norden des Landkreises ist das anders. "Wir füttern gegenwärtig nicht", sagt Christoph Riegert, der Leiter des Forstbetriebs Arnstein, der die 14 600 Hektar Staatswald in Unterfranken betreut. Das Rehwild finde noch ausreichend Knospen und immergrüne Brombeerhecken, an denen es knabbern könne. Er räumt aber ein, dass sich das Schwarzwild in den höheren Schneelagen im Spessart und in der Rhön schon schwer tue, an die nahrhaften Früchte am Boden zu gelangen.
"Jeder Revierleiter muss selbst beurteilen, ob eine Fütterung nötig ist", setzt der Vorsitzende des Jagdschutzvereins, Rainer Abele, hier auf die Fachkompetenz der Jägerschaft. Grundsätzlich sollte die Fütterung nur in wirklichen Notsituationen erfolgen.
Notsituationen können aber nicht mehr nur im Winter auftreten. Auch die trockenen, heißen Sommer bringen das heimische Wild in Gefahr. "Wir haben mittlerweile eine Wassernotzeit", beschreibt Christian Riegert die Folgen der Trockenheit in den vergangenen Jahren. Im Schweinfurter Staatswald waren im Sommer viele Wasserstellen ausgetrocknet. Das Wild habe matschige Tümpel aufgesucht, um daraus zu trinken. Nach Kälte und Schnee kann nun auch noch Hitze und Trockenheit unseren Wildtieren den Tod bringen.