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SCHWEINFURT
Wenn das Klassenzimmer zur Kampfzone wird
Portrait of a Frustrated Maths Lecturer Banging his Head Against a Blackboard       -  Viele Lehrer schweigen, wenn sie Opfer von Gewalt oder Mobbing werden. Symbolfoto: Getty Images
Foto: Digital Vision. (Digital Vision) | Viele Lehrer schweigen, wenn sie Opfer von Gewalt oder Mobbing werden. Symbolfoto: Getty Images
Angelika Kleinhenz
 |  aktualisiert: 27.04.2023 06:43 Uhr

Es geschah in Mathe. Sie stand mit einem Achtklässler an der Tafel. „Als er spürte, er kann die Aufgabe nicht, wollte er mir eine knallen. Ich konnte mich gerade noch ducken“, berichtet Simone Fleischmann. Die Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV) hat es selbst erlebt: Gewalt gegen Lehrer ist keine Seltenheit. Und schon gar kein Einzelfall, wie die Kultusministerien behaupten.

Eine forsa-Umfrage im Auftrag des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) unter 1200 Schulleitungen bestätigt: In den vergangenen fünf Jahren gab es an der Hälfte der befragten Schulen direkte psychische Gewalt gegen Lehrkräfte. Lehrer werden körperlich ahngegriffen oder immer öfter auch Opfer von Cybermobbing. Ein ähnliches Bild zeigt eine forsa-Umfrageaus dem Jahr 2016.

Meldung der Vorfälle nicht erwünscht

„Wir dürfen Gewalt gegen Lehrkräfte nicht länger bagatellisieren“, sagt Simone Fleischmann. Das Thema müsse raus aus der Tabuzone. Im Bayerischen Bildungsausschuss habe man die Zahlen weder wahrnehmen, noch neu erheben wollen. Das sei falsch. Nur, wenn öffentliche Statistiken das ganze Ausmaß greifbar machen, könne man das Klima an den Schulen verbessern und Lehrer besser schützen, bekräftigt Udo Beckmann, Bundesvorsitzender des VBE.

Doch die Haltung der Ministerien, es handle sich lediglich um Einzelfälle, ist nicht das einzige Problem. Jeder zehnte Schulleiter gab an, das Opfer nach einer Attacke nicht ausreichend unterstützen zu können – entweder, weil die gewalttätigen Schüler uneinsichtig oder deren Eltern nicht kooperationswillig sind. Dass sich das Ministerium der Fälle nicht ausreichend annehme, und Meldungen mit zu zu viel Bürokratie verbunden seien, sind die gängigen Kritikpunkte der Schulleiter. Auch von der Schulverwaltung komme zu wenig Unterstützung und jeder fünfte Schulleiter befürchtet, dass die Reputation seiner Schule darunter leidet, wenn derartige Vorfälle publik werden.

Umfrage unter 1200 Schulleitern
Foto: VBE / MP-GRAFIK: Konrad Jarysto | Umfrage unter 1200 Schulleitern

Dabei ist eine gewisse Gewaltbereitschaft an allen Schularten vorhanden: Cybermobbing ist an Gymnasien fast ebenso häufig wie an Haupt-, Real- oder Gesamtschulen. Lehrer an Grundschulen werden am häufigsten körperlich angegriffen (siehe Grafik).

Betroffene Lehrer schweigen aus Angst

Auch in Unterfranken führen weder Schulämter noch Regierung entsprechende Erhebungen durch. Obwohl die Ergebnisse der aktuellen forsa-Umfrage bereits alarmierend sind, geht Gerhard Bleß, Vorsitzender des Unterfränkischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (ULLV) aus Gaukönigshofen (Lkr. Würzburg), von einer weit höheren Dunkelziffer aus.

Denn viele Lehrer schweigen, wenn sie selbst Opfer werden. Einige haben Angst, dass es ihnen als Schwäche angelastet wird, wenn ihnen die Situation entgleitet. Andere fürchten, als schlechter Lehrer abgestempelt zu werden oder berufliche Nachteile zu erleiden – etwa, welche Klassen ihnen zugewiesen werden, an welche Schulen sie versetzt oder wie sie von ihren Vorgesetzten beurteilt werden. Betroffene sind besorgt, dass ihnen Chefs oder Kollegen nicht den Rücken stärken, dass sie innerhalb der Schule an Ansehen verlieren oder obendrein noch psychische Probleme oder mangelnde Durchsetzungsfähigkeit unterstellt bekommen.

Erfahrene Lehrer könnten sich oft selbst aus der Schusslinie bringen. Junglehrer dagegen brauchen die Unterstützung von Schulverwaltung, Vorgesetzten und Kollegen sowie ein Klima des Vertrauens, um sich überhaupt zu äußern, so Bleß.

Auch Eltern werden aggressiv

Doch die Gewalt geht nicht nur von Schülern aus, besonders wenn sie psychischer Natur ist. Auch die Zahl der Attacken von Eltern ist hoch, zeigt das Ergebnis der Lehrerbefragung 2016. „Sehr häufig ist es der Vater, der auftaucht und einer Lehrerin droht“, sagt Bleß. Insgesamt sind immer mehr Frauen im Lehrerberuf tätig. Bei manchen Eltern herrsche die Ansicht, eine Lehrerin könne man leichter einschüchtern. Da die Eltern Vorbild für ihre Kinder sind, müsse man sich nicht wundern, wenn es diese dann ebenfalls mit Gewalt versuchen. In der Lehrerbefragung gab jede fünfte Lehrkraft an, schon einmal Opfer psychischer Übergriffe geworden zu sein. In den meisten Fällen waren die Täter Schüler. Über die Hälfte der betroffenen Lehrer geriet allerdings auch schon einmal ins Visier aggressiver Eltern. In einigen Fällen kamen die Attacken sogar von Kollegen und Vorgesetzten oder aus mehreren Richtungen gleichzeitig (siehe Grafik).

Umfrage unter knapp 2000 Lehrern
Foto: VBE / MP-GRAFIK: Konrad Jarysto | Umfrage unter knapp 2000 Lehrern

Schule als Spiegel der Gesellschaft

Eine Ursache der Gewalt ist die zunehmende Verrohung unserer Gesellschaft, sagen die Vertreter der Lehrerverbände. In der Schule zeige sich dies wie durch ein Brennglas. „Wenn andernorts Polizisten bespuckt, Schaffnern ein Bein gestellt und Rettungsassistenten weggeschubst werden, wenn Politiker sich im Ton vergreifen und Menschen in den Medien öffentlich ausgegrenzt, diskriminiert oder beleidigt werden, dann macht es uns das verdammt schwer, Schüler gewaltfrei zu erziehen“, sagt Simone Fleischmann. „Wir müssen lernen, gesellschaftliche Konflikte wieder mit Toleranz, Respekt und Empathie auszutragen.“ Die Schule solle eigentlich ein Schutzraum sein, in dem Schüler lernen, gewaltfrei und ohne Hass und Ausgrenzung miteinander umzugehen. Doch gerade nach dem Wochenende werde deutlich, wie die derzeitige Politik die Gesellschaft spaltet. Ängste vor anderen Menschen, die geschürt werden, führen zu Aggressionen. Und bei Kindern führten sie schnell dazu, dass sie auch mal hinlangen.

Vielen Kindern fehlt das Repertoire, sich angemessen zu verhalten, sagt Helmut Schmid, stellvertretender Vorsitzender des ULLV aus Gerolzhofen (Lkr. Schweinfurt). „Sie können nicht mehr unterscheiden, ob sie mit einem Freund, der eigenen Mutter oder dem Lehrer reden.“ Ebenso wenig hätten sie gelernt, mit Konflikten umzugehen: „Anstatt eine Situation mit Worten zu klären, hauen sie hin.“ Dass schon Erstklässler dem Lehrer ans Schienbein treten, bestätigt Tomi Neckov, Vizepräsident des BLLV aus Schweinfurt. In der ersten Klasse fällt Gewalt nur weniger auf, so Schmid. „Wenn ein Siebenjähriger zuschlägt, ist das nicht so heftig wie bei einem 16-Jährigen.“

Warum Schüler zuschlagen

Die Anlässe für Gewaltausbrüche werden immer nichtiger, so die Lehrervertreter. Die Gründe, die dahinterstecken und ein Kind oder einen Jugendlichen aggressiv werden lassen, sind sehr unterschiedlich. Es gibt die Kinder, deren Eltern zu viel verlangen, die schulisch überfordert sind oder die gemobbt werden. Es gibt die Kinder, die sozial verwahrlost sind und diejenigen, die zuhause selbst oder deren Mutter, Bruder oder Schwester, geschlagen werden.

Bei muslimischen Kindern spielt oft das Frauenbild eine Rolle. „Jungen haben weniger Respekt vor dem, was eine Lehrerin sagt. Die Bereitschaft zuzuhören, ist geringer“, sagt Neckov. Doch der Anteil der Flüchtlingskinder, die durch Gewalt auffallen, ist nicht erkennbar höher als bei allen anderen Kindern, so Schmid. Das Phänomen der Gewalt zieht sich durch alle gesellschaftlichen Schichten. „Wir haben auch Kinder aus wohlsituierten Verhältnissen, die über die Stränge schlagen.“ Auch die Gespräche mit den Eltern, wenn es in der vierten Klasse um den Übertritt ihrer Kinder geht, werden heute aggressiver geführt als noch vor zehn Jahren.

Gewalt an Dorfschulen ist laut forsa-Umfrage seltener als an Schulen mit städtischem Einzugsbereich. Auf dem Land gibt es noch dichtere soziale Netze, vermutet Schmid. Auch die Qualität der Gewalt unterscheidet sich je nach dem Einzugsbereich einer Schule. Besonders betroffen sind Brennpunktschulen in Großstädten. In Bayern macht die Präsidentin des BLLV unter anderem die Tatsache dafür verantwortlich, dass der Bildungserfolg der Kinder unmittelbar vom Status des Elternhauses (Einkommen und Bildungshintergrund) abhängt. Dies sei in keinem anderen Bundesland so offensichtlich. Die Kinder werden anhand dreier Noten ab der vierten Klasse in Bildungssieger und Bildungsverlierer aufgeteilt, ärgert sich Fleischmann.

Gewalt verhindern, aber wie?

Dabei können Lehrer alle Kinder mit ihren Stärken und Schwächen angemessen fördern, wenn sie mehr Zeit für die Einzelnen hätten und individueller auf sie eingehen könnten, ist sich Fleischmann sicher: zum Beispiel mit einem zweiten Lehrer oder einer zusätzlichen pädagogischen Kraft in der Klasse. Ganz zu schweigen von ausreichend Schulpsychologen und Schulsozialarbeitern, die mit den Kindern und ihren Eltern arbeiten. Ein einzelner Lehrer, der noch 20 andere in der Klasse sitzen hat, könne keine fünf Rollen auf einmal spielen.

In Schweinfurt beispielsweise gibt es einen Jugendsozialarbeiter, der sich in einer halben Stelle um 400 Mittelschüler kümmert. Ähnliches leistet eine Fachkraft in Gerolzhofen in einer Viertelstelle für 325 Grundschüler.

Ministerpräsident Söder hat 4000 neue Stellen für Lehrer und 500 für multiprofessionelle Teams in Aussicht gestellt. Dies sei ein Schritt in die richtige Richtung, finden die Pädagogen – doch für insgesamt 4000 Schulen in Bayern zu wenig.

Angriffe auf Lehrer: Von Cybermobbing bis zu körperlicher Gewalt

Von einem Cybermobbing-Fall berichtet Stephan Withelm aus Würzburg. Er ist Rechtsschutzreferent des BLLV für Unterfranken. An ihn können sich Mitglieder wenden, wenn sie Opfer von Gewalt werden und die Fälle wegen besonderer Schwere vor Gericht landen. Da die betroffene Lehrkraft anonym bleiben möchte, deutet Withelm die Fakten nur an: Über die sozialen Medien habe sich ein Schüler als besagte Lehrkraft ausgegeben. Er habe deren Identität gestohlen, um in ihrem Namen Straftaten zu begehen, zum Beispiel Nacktfotos von Minderjährigen anzufordern. Das Opfer sei psychisch am Ende. Dagegen sei dem Jugendlichen der angerichtete Schaden bis heute nicht bewusst.

Im Fall des Achtklässlers, der seine Lehrerin, die Präsidentin des BLLV, Simone Fleischmann, an einer Schule im Münchner Umland schlagen wollte, reagierten die anderen Kinder in der Klasse hysterisch. Fleischmann beschreibt, was ihr dabei durch den Kopf schoss: „Was machst du mit dem Schüler? Wie kommst du an die Eltern ran? Schaltest du die Polizei ein? Was machst du mit den anderen?“ In dieser Situation müsse man die Abläufe in der Schule sehr gut kennen. In ihrem Fall verständigte der Schulleiter das Heim des Schülers und die Polizei. Die Lehrerin und ein Kollege sprachen mit der Klasse. Das Kollegium tagte. Als der Vorfall auch an der Schule die Runde machte, wurde eine Schulkonferenz einberufen.

 
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    Solange die Tatsachen nicht auf den Tisch ausgesprochen werden, solange kann es keine richtigen Maßnahmen geben und keine Lösung des Problems.
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