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WÜRZBURG
„Struktur im Alltag gibt Sicherheit und reduziert Stress“
Katja Glatzer
 |  aktualisiert: 05.06.2017 03:45 Uhr

Etwa ein Prozent der Menschen in Deutschland ist von Autismus betroffen. Die tief greifende Entwicklungsstörung ist nicht heilbar, es gibt aber gute Fördermöglichkeiten. Auch Früherkennung ist wichtig. Im Interview erklärt Dr. Regina Taurines, was Autismus bedeutet, und wie man mit autistischen Menschen richtig umgeht. Taurines ist seit 2014 stellvertretende Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Universität Würzburg. Ein wesentliches Angebot der dort angesiedelten Spezialambulanz ist die Diagnostik von Autismus. Gleichzeitig ist die 39-Jährige Vorstandsmitglied im Verein „Autismus-Kompetenzzentrum Unterfranken“.

Frage: Frau Taurines, was genau ist Autismus?

Regina Taurines: Autismus ist eine tief greifende Entwicklungsstörung. Sie beeinträchtigt die Fähigkeiten der Betroffenen zu kommunizieren und am sozialen Leben teilzuhaben. Autistische Verhaltensweisen sind verursacht durch biologische Veränderungen, die zum großen Teil vererbt sind, aber immer von Geburt an bestehen. Belastende Lebensereignisse, ein problematisches Erziehungsverhalten oder Impfungen können indes keinen Autismus verursachen.

Welche Formen des Autismus gibt es?

Taurines: Autistische Störungen werden klassisch in die Formen „Frühkindlicher Autismus“, „Asperger Syndrom“ und in die Restkategorie „atypischer Autismus“ eingeteilt. Heute wird zunehmend von der „Autismus-Spektrumstörung“ (kurz ASS) gesprochen. Die besagt, dass die unterschiedlichen Formen zur gleichen Diagnose mit unterschiedlichem Schweregrad und Ausprägung gehören.

Wie sehen diese Ausprägungen aus?

Taurines: Nach der klassischen Aufteilung stellt der frühkindliche Autismus die schwerste Form dar. Viele Kinder entwickeln keine Sprache und können neben den autistischen Symptomen auch körperliche Erkrankungen oder eine verminderte Intelligenz aufweisen. Kinder mit dem Asperger-Syndrom indes werden oft erst später auffällig und zeigen keine Sprachentwicklungsstörung. Oft haben Asperger-Autisten ein ausgeprägtes stereotypisches Interesse und können zum Beispiel im Bereich Technik oder Mathematik mit lexikalischem Wissen punkten.

Ist die Störung heilbar?

Taurines: Autismus ist nicht heilbar. Durch pädagogische und therapeutische Unterstützung, eine Strukturierung des Lebensalltags und die Aufklärung der begleitenden Menschen können jedoch Fertigkeiten entwickelt, Entlastung und Integration geschaffen werden, damit die Menschen mit Autismus ein glückliches Leben führen können.

Welche Fördermöglichkeiten gibt es?

Taurines: Kinder im Kindergartenalter können schon früh von Angeboten profitieren, bei denen soziale Interaktion geübt wird. Auch Logopädie und Physiotherapie können unterstützend wirken. Für Kinder und Jugendliche mit guter Begabung ist ein soziales Kompetenzzentrum sinnvoll, wo sie lernen, ein Gespräch zu beginnen oder Gefühle des anderen am Gesichtsausdruck abzulesen. Außerdem ist ein Elterntraining wichtig und das Personal in Kindergarten, Schule und Beruf sollte über die Besonderheiten des autistischen Menschen informiert sein. Auch eine psychotherapeutische Behandlung und/oder medikamentöse Therapie von Begleiterkrankungen kann notwendig sein.

Worauf muss man im Umgang mit autistischen Menschen achten?

Taurines: Menschen mit Autismus profitieren von einem hohen Maß an Struktur. Struktur gibt Sicherheit und reduziert Stresserleben. Häufig ist es für sie leichter, Informationen über Bilder und Symbole, nicht über Sprache, zu erhalten. Da sie Schwierigkeiten haben, unwichtige Reize auszufiltern, sind laute Situationen häufig eine Überforderung, beispielsweise große Familienfeste oder Kaufhäuser. Es ist wichtig, sich Zeit zu nehmen, um sie zu verstehen.

Gibt es eine frühzeitige Erkennung?

Taurines: Einen 'Marker von Autismus' gibt es nicht. Gestellt wird die Diagnose in einem Zusammenspiel aus Informationen der Eltern und autismusspezifischen Testverfahren. Eine Auffälligkeit von Kleinkindern ist oft der fehlende Blickkontakt, zum Beispiel, wenn man sie mit Namen anspricht, auch Körperkontakt lehnen sie ab. Kinder mit Autismus schlafen oft weniger, essen wählerisch und sind sensibel auf Geräusche und Gerüche. Die Motorik entwickelt sich oft verlangsamt, die Sprachentwicklung ist verzögert oder wirkt bei älteren Kindern gestelzt oder gar „altklug“. Bei sozialer Überforderung reagieren sie oft mit Rückzug, Schreien oder Aggression.

 
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