Tobias gibt mir die Hand, drückt sie fest und lacht glucksend. Er scheint sich über meinen Besuch zu freuen, würde mich am liebsten gleich umarmen. Der 30-Jährige ist einer von elf Menschen mit Autismus, die in der Tagesförderstätte der Lebenshilfe in Schweinfurt betreut werden. Die anderen Tagesbewohner sind eher zurückhaltend, begegnen mir mit Sicherheitsabstand und beobachten mich teils neugierig, teils skeptisch oder sogar ein bisschen ängstlich.
Täglich von 8 Uhr bis 15.30 Uhr verbringen sie hier ihre Zeit, lernen, spielen, arbeiten und kommunzieren - auf ihre Art. Tatsächlich sei das Begrüßungsritual von Tobias eher untypisch für Menschen mit Autismus, erklärt mir die Leiterin der Tagesförderstätte, Julia Küllstädt. „Autisten haben Schwierigkeiten mit anderen Menschen in Kontakt zu treten und soziale Beziehungen aufzubauen.“ Das resultiert laut der Betreuerin aus einer tief greifenden Entwicklungsstörung, der eine neurologische Fehlfunktion zugrunde liegt.
Flut von Eindrücken
„Autisten nehmen die Welt anders wahr, sie lernen anders, haben andere Werte, Regeln und Interessen.“ Oft erlebten sie die Welt als überwältigende Flut von Eindrücken, die sie schnell überfordern können. „Stellen Sie sich vor, Sie würden bei unserem Gespräch hier alle Hintergrundgeräusche gleich wahrnehmen“, gibt mir Küllstädt als Anhaltspunkt. Es klingt nach einem großen Durcheinander.
Heute haben Robin, Tobias und Anja (Name geändert) Kommunikationstraining. Es geht um die fünf Sinne. Sehen, hören, riechen, fühlen... „Was fehlt noch?“, fragt Betreuer Marc Kaut in die Runde. Tobias ist schnell dabei. Auf seinem Schreibbrett aus Holz tippt er „schmecken“ ein. „Prima“, sagt seine Betreuerin und Tobias freut sich wie ein Schneekönig. Ich freue mich mit.
Rituale und Beständigkeit
Ausnahmsweise darf ich heute teilnehmen. Das ist nicht selbstverständlich. Denn für Menschen mit Autismus sind Rituale und Beständigkeit ganz wichtig. „Schon kleinste Veränderungen können sie aus dem Konzept bringen“, erklärt Küllstädt. So muss sich auch Anja erst mal an meine Präsenz im Raum gewöhnen. Sie bewegt ihren Kopf unkoordiniert hin und her und gibt unkontrolliert Laute von sich. Nach ein paar Minuten wird sie sichtlich ruhiger, schenkt mir sogar ein Lächeln und konzentriert sich auf die Lerninhalte.
„Es ist wichtig, auch Neues auszuprobieren und Grenzen auszutesten“, erklärt die Leiterin der Förderstätte. Denn langfristig schaffe dies für die Menschen eine höhere Lebensqualität. „Es ist mein Ziel, dass sie selbstständiger werden und sich in ihrer Persönlichkeit entwickeln“, sagt Küllstädt, die schon seit den Anfängen der Förderstätte im Jahr 2008 mit dabei ist – damals als Praktikantin, heute als Teamleiterin.
Keine Vermeidungstaktik
Vermeidungstaktik zählt für sie nicht: „Wir gehen draußen spazieren, fahren mit dem Bus, gehen zu McDonalds Eis essen, zum Faschingsumzug, in den Wildpark oder in die Bücherei.“ Gleichzeitig ist das gelebte Inklusion, denn „wir vestecken uns nicht und fallen den anderen Leuten auf.“ Meist gebe es positive Rückmeldungen, aber man müsse auch mit bösen Blicken umgehen.
Die Erfolge geben der jungen Frau recht. Immer wieder gibt es bewegende Momente, die zeigen, was Vertrauen und Training bewirken können. Küllstädt erzählt von einer Bewohnerin, die Angst hatte vor jeder Art der Berührung. „Den Moment, als ich ihre Hand auf meiner Schulter spürte, werde ich nicht vergessen. Das war Gänsehautfeeling pur.“
Betreuer Kaut fährt mit seinem Lernprogramm fort. Seine aufmerksamen Schüler lernen, dass es Nahrungsmittel gibt, die salzig, sauer, süß, bitter oder umami schmecken.
Praxis-Test Schmecken
Natürlich steht auch ein Praxis-Test an. So hat Kaut ein Tablett angerichtet mit Erdbeeren, Oliven, Zitronenscheiben, Pilzen und kleinen Salzbrezeln. Die Erdbeeren schmecken süß, die Brezeln salzig - da sind sich die Drei einig und kommunizieren dies über das Schreibbrett oder mittels der Kärtchen, die der Heilerziehungspflegehelfer bereit gelegt hat.
Beim Biss in die Zitrone verzieht Tobias sein Gesicht. „Sauer“ schreibt er auf die Tafel und „schmeckt mir nicht“. Küllstädt ist stolz auf ihren Schützling: „Es ist faszinierend, wie viel unsere Tagesbewohner trotz ihrer Behinderung wissen. Wir wollen sie fördern und das Wissen aus ihnen herauskitzeln.“
Dabei ist Teamwork im Betreuerteam bestehend aus Ergotherapeuten, Heilerziehungspflegern und Erziehern von größter Bedeutung. „Denn unsere Schützlinge merken sofort, wenn wir uns uneinig sind und werden nervös“, beschreibt Küllstädt. In der Förderstätte kommen auf elf Autisten sieben Betreuer. „Das ist ein hoher Betreuungsschlüssel, aber auch nötig.“
Schweinfurt ist Vorreiter
Zu den Symptomen von Autismus gehört auch ein plötzlich auftretendes Aggressionsverhalten, wenn eine Reizüberflutung eintritt. Dann ist schnelles Handeln gefragt. „Wir kennen unsere Schützlinge und wissen, wie wir sie beruhigen können“, so Küllstädt. Die Schweinfurter Tagesförderstätte ist übrigens neben Aschaffenburg die einzige ihrer Art im Raum Unterfranken. „Wir sind hier Vorreiter, tauschen uns aber mit weiteren Einrichtungen bayernweit aus.“
Finanziert wird das Angebot durch den Bezirk Unterfranken. Die Tagesbewohner kommen aus Schweinfurt, Hammelburg, Wildflecken, den Haßbergen und Würzburg. Mit dem Bus werden sie geholt und gebracht. „Fast alle unserer autistischen Menschen wohnen bei ihrer Familie.“
Präventiv Frust abbauen
Um präventiv Frust abzubauen, können die Tagesbewohner das Laufband oder Bewegungsangebote nutzen. Zum Entspannen gibt es einen Ruheraum. Struktur in den Tag bringen auch die Verpackungsarbeiten für die Werkstatt der Lebenshilfe. Da ist Robin voll in seinem Element. Akribisch packt er verschiedene Einzelteile für Montagarbeiten in eine Tüte. Ein Teil nach dem anderen - er hat sein eigenes System entwickelt und daran hält er sich.
Zusammen Kochen ist immer freitags angesagt. „Da haben wir in der Küche schon Utensilien angeschafft, die das Schnippeln erleichtern“, so Kaut. Der Heilerziehungspflegerhelfer ist im siebten Jahr dabei und kein bisschen müde: „Die Arbeit macht mir Spaß. Bei uns geht es oft lustig zu.“ Doch wie muss man sein, um den Beruf ausüben zu können?
„Man muss gut strukturiert sein und selbst reflektieren können“, erklärt Kaut. Und Küllstädt ergänzt: Struktur und klare Worte seien das, was die autistischen Menschen brauchen. „Setz dich!“ statt „Würdest du dich bitte dorthin setzen?“ oder „Bring mir den Ball!“ statt „Könntest du mir den Ball bringen?“.
Klare Ansagen
„Manchmal hört sich das etwas harsch an, aber es ist die Sprache, die sie verstehen und umsetzen können“, sagt die 28-Jährige. Und: Freundschaftliche Beziehungen seien gut, „aber trotzdem bin ich die Betreuende und es braucht klare Grenzen“. Freundschaften unter den Autisten werden indes kaum geschlossen, „manche tauschen Floskeln aus, das wars aber schon“.
Küllstädts Traum wäre ein Wohnheim für autistische Menschen in der Nähe, „wo ganz und gar auf deren Bedürfnisse eingegangen wird“. Der Bedarf wäre da. „Es gibt Situationen, in denen die Familie die Betreuung nicht weiter übernehmen kann. Was dann?“