Alle Augen sind nach oben gerichtet: Als das erste Bauteil an dem 130 Meter langen Ausleger des Riesenkrans über das Dach der Produktionshalle vom ZF-Werk Süd im Hafen schwebt und passgenau durch eine Öffnung in der Dachhaut ins Gebäude eingehoben wird, verfolgen zahlreiche Mitarbeiter das Spektakel.
"So etwas erlebt man nur alle fünf bis zehn Jahre", sagt Standortleiter Hans-Jürgen Schneider. Das Unternehmen erweitert die Produktion elektrischer Antriebe um eine zweite Linie. Dazu müssen Lüftungsanlagen und Kältemaschinen eingebaut werden, die so groß sind, dass sie nicht durch die Tore des Werkgebäudes passen. Sie werden deshalb durch die Hallendecke gehievt.
Der Riesenkran der Münchener Firma Schmidbauer ist am Wochenende die Attraktion im Hafen. Schon von Weitem sieht man das in den Himmel ragende gelbe Ungetüm. Der blaue Baukran der Firma Glöckle auf dem benachbarten Grundstück wirkt wie ein Spielzeug dagegen.
Knapp 100 Meter hoch ist die aufgesetzte Gittermastspitze, 130 Meter lang der Ausleger, 96 Tonnen schwer der Koloss. Für die Hebeaktion sind zusätzlich 160 Tonnen Ballastgewicht nötig. Mit zehn Tiefladern wurden die einzelnen Teile nach Schweinfurt gebracht und mit einem weiteren Autokran aufgebaut. Von Donnerstag bis Sonntag war der Großkran im Einsatz.
Neue E-Mobility-Produktionslinie im ZF-Werk Süd
Schon seit einem Jahr laufen die Vorbereitungen für den Aufbau der neuen Produktionslinie im Bau 601. Es ist das größte Produktionsgebäude im ZF-Werk Süd, 300 Meter lang, 200 Meter breit. Genau in der Mitte des Baus entsteht auf 2000 Quadratmetern Fläche die neue Produktionslinie. Früher gingen hier Stoßdämpfer vom Band, künftig sind es elektrische Antriebe. Für deren Herstellung gelten ganz andere Qualitätsanforderungen was Sauberkeit, Temperatur und Belüftung anbetrifft. Deshalb werden die monströsen Lüftungsanlagen und Kältemaschinen gebraucht, deshalb wird die gesamte Produktionsfläche eingehaust, sozusagen ein "factory-in-factory"-System.
Während der Hubaktion wird das Gebäude evakuiert. Die Lüftungsgeräte stehen aufgereiht in einem umzäunten Areal. Das größte Gerät ist 16 Meter lang, vier Meter breit und drei Meter hoch. Das Schwerste wiegt 3,5 Tonnen, so viel wie ein Nashorn oder zwei SUV. 26 Hübe muss der Kranfahrer machen, bis er alles drin hat. Das ist mentale Schwerstarbeit. Denn er sieht nicht, was er tut, wird komplett per Funk dirigiert.
"Die größte Herausforderung für den Kranfahrer ist die Ausladung", sagt Alexander Philippi, der Leiter der Versorgungstechnik bei ZF. Über 100 Meter muss er den Ausleger ausfahren, das ist so lang wie ein Fußballfeld, um die Bauteile über das dreistöckige Gebäude auf den Abladeplatz in der Mitte des Dachs zu lupfen.
Vor fünf Jahren gab es schon mal eine ähnliche Aktion bei ZF, erinnert sich Frank Kress, der technische Projektleiter. Damals war es aber nur ein Großgerät, und das wurde per Hubschrauber abgeseilt. Das wäre bei den vielen Bauteilen diesmal keine Alternative gewesen. Also muss der Spezialkran ran. 50.000 Euro kostet der Einsatz. Bei 35 Millionen Euro Investitionskosten für die neue Produktionslinie ein vergleichsweise bescheidener Kostenfaktor.
"Das ist ein weiterer Schritt in der Transformation", verweist Standortleiter Schneider auf die Weiterentwicklung des Unternehmens in Richtung E-Mobility. 90 Mitarbeiter werden künftig hier arbeiten, 70 direkt an der Produktionslinie, 20 in der Arbeitsvorbereitung und Qualitätssicherung. Der Produktionsstart ist Ende des ersten Quartals 2020 geplant. Rund 100.000 Einheiten sollen dann im Jahr vom Band gehen. Dr. Andreas Fink, Senior Vice President und Chef der elektrischen Fahrantriebseinheit am Standort Schweinfurt, nutzt die Gelegenheit, sich über den Baufortschritt im Gebäude zu informieren und verfolgt genauso interessiert wie die vielen Mitarbeiter das Schauspiel vor dem Gebäude 601.
Drei Lüftungskästen sind schon drin. Der Kranfahrer macht eine kurze Verschnaufpause, nimmt einen Schluck aus der Cola-Flasche. Gleich geht es weiter. Bis in den Abend hinein soll er fahren und den ganzen nächsten Tag hindurch. Spätestens Sonntagmittag müssen alle Teile im Gebäude sein. Am Montag läuft hier wieder der normale Arbeitsbetrieb.
Froh sind alle aus dem 15-köpfigen Projektteam, dass das Wetter mitspielt. "Regen wäre nicht so schlimm", meint Bauprojektleiter Werner Hofmann, "aber Wind." Schon bei 6 Meter pro Sekunde, das ist noch eine schwache Brise, bei der sich Blätter und Zweige leicht bewegen, hätte man die Hubaktion abblasen müssen. Zu gefährlich wären dann die Schwankungen für die angehängten Bauteile in der großen Höhe und Weite geworden.
Wenn an diesem Montagmorgen die Arbeiter ihre Schicht im Werk Süd antreten, ist die Aktion längst beendet und der Riesenkran arbeitet schon wieder woanders. Vielleicht hebt er Brückenteile über eine Autobahn oder Rotorblätter auf Windräder – halt alles, was schwer und weit weg ist.