10. Juli 2034. Das Fernsehen zeigt zerstörte Landstriche, brennende Wälder, Sturmböen und Sturmfluten. Die Musik unterstreicht die Dramatik der Bilder, mit denen Moderator Ingo Zamperoni zum Aufmacher der Tagesthemen überleitet: "Die Entscheidung der Bundesregierung unter der damaligen Kanzlerschaft von Angela Merkel, den Kohleausstieg erst 2038 zu vollziehen, könnte Deutschland teuer zu stehen kommen." 31 Staaten des globalen Südens verklagen Deutschland wegen seiner Klimapolitik. Sie fordern Schadenersatz in Millionenhöhe. Ingo Zamperoni: "Das Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof gilt als eines der bedeutendsten in der Justizgeschichte." Zum ersten Mal wird darüber verhandelt, ob Staaten grundsätzlich die Pflicht haben, gegen den Klimawandel vorzugehen.
Es ist eine Geschichte aus der Zukunft, die in dem Doku-Drama "Ökozid" von Andres Veiel erzählt wird und für die der junge Berliner Komponist Damian Scholl, dessen Wurzeln im Landkreis Schweinfurt liegen, gemeinsam mit seinem Bamberger Kollegen Ulrich Reuter die Musik geschrieben hat. Der Film ist im Rahmen der ARD-Themenwoche entstanden und wird am kommenden Mittwoch, 18. November, zur besten Sendezeit um 20.15 Uhr in der ARD ausgestrahlt.
Es ist das Jahr 2034. Die Klimakatastrophe ist vorangeschritten, Deutschland leidet unter Dürren. Noch viel schlimmer aber geht es den Staaten des globalen Südens. Diese verklagen die deutsche Regierung vor dem Internationalen Gerichtshof, wider besseren Wissens die falschen Entscheidungen getroffen und damit die Klimakatastrophe mitverursacht zu haben.
Schon die Musik zum Einstieg fesselt, zieht den Betrachter förmlich hinein in dieses Doku-Drama. "Der Regisseur wollte, dass die Kraft, die von den Klägerinnen ausgeht, mitschwingt in der Musik", erklärt Damian Scholl das hollywoodeske Intro. Als der gebürtige Gernacher im März im Interview mit dieser Redaktion über sein Leben als Filmkomponist in Berlin berichtete, liefen gerade die Vertragsverhandlungen für Ökozid. Regisseur Andres Veiels wollte wieder das Team um sich haben, mit dem er die Kinodokumentation über Joseph Beuys produziert hatte, die 2017 auf der Berlinale uraufgeführt wurde. Die Musik von Damian Scholl und Ulrich Reuter war ein Jahr später für den Deutschen Filmpreis nominiert worden und hatte im gleichen Jahr beim DOK.Fest München den Deutschen Dokumentarfilm-Musikpreis gewonnen.
Eigentlich hätte Ökozid schon im April gedreht werden sollen. Doch es kam Corona. Der Dreh erfolgte dann im Juni an nur 19 Tagen als eines der ersten Filmprojekte nach dem Lockdown – unter strengen Auflagen. Das spiegelt sich auch im Film wider. Die Gerichtsverhandlung ist ein Kammerspiel, ohne Publikum. Sie findet in einem Interimsgebäude auf dem alten Berliner Flughafen Tegel statt, weil nach der dritten Sturmflut in Folge der Sitz des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag geräumt werden musste.
Zwei Anwältinnen vertreten die 31 klagenden Länder des globalen Südens, die ohne Unterstützung der Weltgemeinschaft dem Untergang geweiht sind. Sie fordern Schadensersatz in Millionenhöhe, um ihr eigenes Überleben zu sichern. Ranghohe Vertreter aus Politik und Industrie sind als Zeugen geladen. Die Verteidigung ruft die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel in den Zeugenstand. Das Gericht muss entscheiden, ob die deutsche Politik für ihr Versagen beim Klimaschutz zur Rechenschaft gezogen und damit ein Präzedenzfall für Klimagerechtigkeit geschaffen wird.
Perkussive Klänge und bizarre Effekte
Schon vor den Dreharbeiten hatte sich Damian Scholl mit den Bildern von Dürre, Wüste und Feuer im Kopf auf die Suche nach passenden Klängen begeben und diese vielfach gefunden. Zum Beispiel im Col legno, einer Spielweise von Streichinstrumenten, bei der die Saiten mit der hölzernen Bogenstange geschlagen werden. Das ergibt einen spröden, perkussiven Klang.
Bizarre Effekte lässt er durch das Reiben an Gläsern oder das Verfremden von Instrumenten entstehen. "Ich habe hauptsächlich die Bilder von der Klimakatastrophe vertont." Kollege Reuter komponierte die Musik zu den Szenen mit der Filmfigur Laurenz Opalka, den Regisseur Veiel nach dem Vorbild von Dominic Cummings entwickelt hat, dem Mastermind hinter der erfolgreichen Social Media Kampagne des Brexit. "Jeder sucht sich den Teil des Films aus, der ihn anspricht", erklärt Damian Scholl die Arbeitsweise im Team.
Insgesamt 15 Musikstücke sind entstanden, die den 90-minütigen Film mit einer großen musikalischen Farbpalette unterlegen. Der Soundtrack mit allen Stücken wird zum Filmstart am 18. November auf allen einschlägigen Streaming-Plattformen zu hören sein.
Die Filmrollen sind hochkarätig besetzt: mit Friederike Becht und Nina Kunzendorf als Anwältinnen der Klägerstaaten, mit Edgar Selge als Richter und Ulrich Tukur als Verteidiger der Bundesrepublik Deutschland. Bei "titel, thesen, temperamente" am vergangenen Sonntag wurde Ökozid bereits vorgestellt.
Regisseur Andres Veiel sagt dort im Interview, er wolle mit Ökozid zeigen, "wieviel in Sachen Klimawandel möglich gewesen wäre und wieviel boykottiert, relativiert und verharmlost wurde". Der Film solle ein Appell an die Entscheidungsträger sein, den Klimawandel wenigstens noch einzudämmen, bevor es zu einem solchen Prozess komme.
"Ich war froh, dass ich diesen Film hatte", sagt Komponist Damian Scholl mit Blick auf eine andere, große Krise – die Corona-Pandemie. Er habe sich mit diesem Auftrag über den Sommer und Herbst gut beschäftigen können. Aktuell nutzt er die Zeit des neuerliche Lockdowns für ein eigenes Projekt. Er will im nächsten Jahr ein Instrumental-Album mit eigenen Werken herausgeben. Dafür komponiert er gerade die Stücke, die er alle selbst einspielen wird. "Das hält mich bei Laune."
Zurück zur Filmmusik: Wie ging es eigentlich mit dem Hilma-af-Klint-Film weiter? Im Gespräch im März hatte Damian Scholl berichtet, wie er zu dem Kompositionsauftrag für diese Kinodokumentation über die lange unentdeckte Malerin Hilma af Klint gekommen war. Der Film wurde in Deutschland durch Corona abgewürgt, lief aber im Sommer und Herbst nochmal in den Kinos. In Amerika sei er sehr erfolgreich gewesen, sagt Scholl. Die New York Times habe ihn sogar zum "Critic's Pick" (Empfehlung der Woche) gekürt. "Das hat uns ganz schön umgehauen." Inzwischen gibt es "Jenseits des Sichtbaren – Hilma af Klint" auf DVD und in Streaming-Portalen.