
Als Petra in die sechste Klasse kam, fing es an. Zuerst lösten sich einzelne Strähnen von der Kopfhaut, dann ganze Büschel. Kurze Zeit später hatte sie keine Haare mehr. Da war sie zwölf. Lange schämte sie sich für ihren kahlen Kopf, versteckte ihn unter Perücken. Damit ist nun Schluss. Heute steht sie offen dazu. Die 45-Jährige trägt seit April Glatze.
Zu dem neuen Selbstbewusstsein hat Petra auch die Schweinfurter Selbsthilfegruppe "Kopfsache" verholfen. Das sind 18 Frauen und ein Mann, die alle die gleiche Diagnose haben: Alopecia Areata. Das ist die medizinische Bezeichnung für eine Autoimmunkrankheit, bei der das Immunsystem die Haare als Fremdkörper ansieht und sie deshalb abstößt. Es beginnt mit kreisrunden Stellen und kann zum Verlust aller Körperhaare führen. Diese extreme Form hat Petra.
Die Zweithaare werden für die Betroffenen auf Maß angefertigt
"Als ich jung war, habe ich nicht offen darüber geredet", erzählt die Haßfurterin beim weihnachtlichen Gruppentreffen. Dann erfuhr sie über eine Arbeitskollegin von Jutta Gessner. Die Oberndorfer Frisörmeisterin ist ausgebildete Zweithaarspezialistin. Sie versorgt Menschen, die unter Haarausfall leiden, mit medizinischem Haarersatz. Das kann eine Perücke sein oder ein Haarteil. Die Zweithaare werden auf Maß angefertigt. Wer es nicht weiß, sieht den Unterschied nicht.

Eine langjährige Kundin mit kreisrundem Haarausfall hatte Jutta Gessner vor dreieinhalb Jahren auf die Idee gebracht, eine Selbsthilfegruppe ins Leben zu rufen. Für Zweithaarträger gebe es eine riesige Hemmschwelle, sich zu outen. "Da fließen Tränen, da gehen sogar Ehen auseinander", weiß die Zweithaarspezialistin. Mit der Selbsthilfegruppe hat sie ein Forum geschaffen, in dem sich Betroffene austauschen können, in dem jede und jeder akzeptiert wird, so wie sie oder er ist. Die Mitglieder kommen nicht nur aus Schweinfurt, sondern aus der gesamten Region Main-Rhön, von Würzburg über Haßfurt bis Bad Neustadt.
Erfahrungsaustausch steht im Mittelpunkt der Gruppentreffen
Bei Manuela fing der Haarausfall nach der Geburt ihres Sohnes an. Zuerst versuchte sie es noch mit Haarspray und Auftoupieren, doch der Scheitel wurde immer breiter. Inzwischen ist sie "obenrum frei". Zuhause trägt die 48-Jährige Kopftuch. Doch in die Öffentlichkeit geht sie nie ohne ihre Zweithaare. Damit fühlt sie sich wohl. "Am Anfang habe ich mich aber im Spiegel nicht erkannt", gibt Manuela zu, dass das Haarteil ihr Aussehen extrem verändert hat. Die Gruppentreffen tun ihr gut. "Hier braucht man sich nicht verstecken, hier kann man offen reden."
Die monatlichen Zusammenkünfte sind wie ein großes Familientreffen. Jeder erzählt von seinen Sorgen, Nöten, Problemen. Man tauscht Erfahrungen aus, gibt Tipps und Ratschläge. "Wir wollen uns gegenseitig helfen", definiert Jutta Gessner das Ziel der Selbsthilfegruppe, die offen ist für alle Betroffene. "Trau dich, komm zu uns", steht auf dem gemeinsam gestalteten Fleyer, der für die Selbsthilfegruppe "Kopfsache" wirbt.
Ein bis zwei Prozent der Bevölkerung sind von Haarausfall betroffen
Krankheitsbedingter Haarausfall ist weit verbreitet. Nach Angaben des Universitätsklinikums Bonn sind ein bis zwei Prozent der Bevölkerung davon betroffen. "Es kann jeden und jede erwischen, ob Jung oder Alt", sagt Jutta Gessner. Sonja hat mit 23 Jahren alle ihre Haare verloren. "Es hat lange gedauert, bis ich das akzeptieren konnte", sagt die 32-Jährige, die eine Langhaarperücke trägt. Bei Gerti fing es im Kindesalter mit kreisrundem Haarausfall an. Die 61-Jährige hat inzwischen keine eigenen Haare mehr. Seit 2015 trägt sie eine Kurzhaarperücke.
Von Anfang an dabei ist Jasmin. Ihre lange pechschwarze Mähne ist echtes Haar, aber nicht ihr eigenes. Die 44-Jährige trägt seit 20 Jahren Haarteile, um ihr feines, lichtes Kopfhaar zu verdecken. Sie liebt die Abwechslung, besitzt unzählige Varianten an Haarteilen. Manche Frauen lieben Schuhe, Jasmin mag Zöpfe, Pferdeschwänze, Dutt oder lange Mähnen.
"Ich möchte den Menschen, die an Alopecia erkrankt sind, neues Selbstbewusstsein schenken und außerdem auf die Krankheit aufmerksam machen, die vielen Leuten so gar nicht bewusst ist", sagt Jutta Gessner. Auch Ruth hat bei ihr Hilfe gefunden. Die 68-Jährige hat diffusen Haarausfall, er setzte in den Wechseljahren ein. Lange Zeit kaschierte sie die lichten Stellen mit Mützen, bis ihr alles "psychisch zu viel wurde". Vor fünf Jahre ließ sie sich dann ein Haarteil anfertigen. Seitdem geht es ihr wieder gut.
Auch Männer sind in der Selbsthilfegruppe willkommen. "Sie leiden genauso unter dem Haarverlust", weiß Jutta Gessner und verweist auf Promis wie Fußballtrainer Jürgen Klopp, der sich Haare vom Hinterkopf an die Stirn hat verpflanzen lassen. Auch solche Themen kommen beim Gruppentreffen zur Sprache. Petra hat ihren eigenen Weg gefunden, sich wohlzufühlen. Sie zeigt mit Stolz ihre Glatze und zieht aus ihrer Kahlheit sogar "Kraft und Stärke". Ein augenfälliges Tattoo soll das symbolisieren: Über ihren Hinterkopf rankt sich eine Lotusblüte. Im Buddhismus ist sie das Symbol für Schöpferkraft und Erleuchtung.
Die Selbsthilfegruppe "Kopfsache" trifft sich jeden zweiten Mittwoch im Monat um 19 Uhr im Kolpinghaus Schweinfurt, Moritz-Fischer-Straße 3; E-Mail: kopfsache-sw@hotmail.com