Hans Josef Fell ist verzweifelt. Der Politik fehle die Entschlossenheit, um eine nach seinen Aussagen "existenzbedrohende" Situation für die menschliche Zivilisation noch abzuwenden. Seine radikale Forderung: Bis spätestens 2030 müsse eine Null-Emissionswirtschaft verwirklicht werden und zwar weltweit. "Sie haben richtig gehört", sagte der Klimaschutzpolitiker am Donnerstagabend im Schweinfurter Rathaus. Er stütze sich dabei auf "klare naturwissenschaftliche Erkenntnisse", das sei "keine Schwarzmalerei". Er nahm die Kommune sogleich in die Pflicht: An Oberbürgermeister Sebastian Remelé gewandt, erklärte er, dass diese Stadt Vorreiter sein könnte und sein sollte. "Beschließen Sie ein Aktionsprogramm für den Klimanotstand", verlangte er.
Die Diskussion am Donnerstag in der Rathausdiele hatte es in sich, blieb dabei stets sachlich und fair. Und offenbarte zugleich, dass Klimaschutz in Politik und Gesellschaft zwar angekommen ist und als notwendig erachtet wird, bei der Frage nach dem "Wie", "Wer", "Wieviel" und in "Welchem Zeitraum" die Meinungen aber doch weit auseinander gehen.
Nach dem aufrüttelnden Vortrag von Hans Josef Fell moderierte die Journalistin und Umweltwissenschaftlerin Daniela Becker die Podiumsdiskussion "Mobilitätswende und Klimawandel - Chancen für die Region". Neben Fell saßen OB Remelé, Anja Weisgerber (Beauftragte für Klimaschutz im Bundestag), Hans-Jürgen Schneider (ZF Standortleiter Schweinfurt) und Hagen Fuhl (Senertec Schweinfurt) auf der Bühne. Die Kernaussagen und Positionen der Teilnehmer haben wir hier zusammengefasst.
Das sagte Oberbürgermeister Sebastian Remelé (CSU): Nein, den Klima-Notstand für Schweinfurt will der Oberbürgermeister nicht ausrufen. Sebastian Remelé stellte sich zwar hinter Aktionsprogramme, doch dem einen Thema will das Stadtoberhaupt nicht alle Bereiche der Kommunalpolitik unterordnen. Auch meinte Remelé, dass Schweinfurt schon bislang nicht Däumchen gedreht, sondern mit der bevorstehenden Verabschiedung eines realisierbaren und bezahlbaren Fahrradkonzepts, mit kostenfreien Parkplätzen und 15 öffentlichen Ladestellen für E-Autos, dem Mainkraftwerk an der Schleuse, der Kraft-Wärme-Koppelung in Gemeinschaftskraftwerk, dem städtischen Car-Sharing-Angebot, mit dem "unschlagbar günstigen" Stadtbus und einem Klimaschutzkonzept, von dessen über 50 geforderten Schritten bereits ein Dutzend getan seien, Vorsorge getroffen habe. Gewarnt hat der OB vor "visionärem Hochmut", der sich nicht um die Meinung der Mehrheit kümmere. Auch könne das kleine Schweinfurt mit dem durch die Industrie bedingten Großverbrauch an Strom nicht zum Selbstversorger werden, sondern sei auf die Energie aus den Windparks und auf ein funktionierenden Leitungsnetz angewiesen. Ansonsten seien 20 000 Arbeitsplätze bei den Automobilzulieferern in Gefahr. Zum Thema Wasserstoff kündigte Remelé einen "innovativen" Wasserstoffgipfel mit den Stadtwerken, der Fachhochschule und der Industrie an.
Das sagte Hans Josef Fell, Präsident der Energy Watch Group: Die zentrale Forderung des Hammelburger Grünen-Politikers war "die komplette Umstellung auf Nullemissionswirtschaft". Was Kommunen wie Schweinfurt in erster Linie dafür tun könnten, ist mit gutem Beispiel vorangehen: Regenerative Energien fördern, Ladestationen für E-Autos zur Verfügung stellen, öffentlichen Nahverkehr ausbauen und Fahrzeugflotten umstellen auf Elektro-Antrieb, etwa bei Linienbussen. Er nannte als Beispiel für lokalen Klimaschutz das Stadtwerk Haßfurt, das bereits rund doppelt soviel Strom aus regenerativer Energie gewinnt, als es pro Jahr selbst verbraucht. In Haßfurt werde unter anderem überschüssiger Windstrom aus dem Windpark Sailershäuser Wald und weiteren Anlagen mittels Elektrolyse-Verfahren zur Wasserstoffgewinnung genutzt ("Power-to-Gas"; Wasser wird aufgespalten in Sauerstoff und Wasserstoff). Auch könnten dort Stromkunden mit dem "Smart Meter" (intelligenter Stromzähler) ihren Strombedarf genau steuern. "Ich frage mich, warum die Stadtwerke Hammelburg oder Schweinfurt noch nicht gefolgt sind", sagte Fell. Die Politik müsse endlich "runter von der Bremse" und echte Anreize schaffen, den Klimaschutz voranzutreiben. "Die Gesellschaft ist wesentlich schneller in der Lage zu handeln, wenn man die Bremsen löst." Er forderte dazu auf, den Ernst der Lage zu erkennen: "Wenn Sie glauben, das trifft uns nicht: Hätten Sie vor zwei Jahren erwartet, dass unser Wald stirbt?", fragte Fell.
Das sagte Anja Weisgerber (CSU), Mitglied des Bundestages und dort Beauftragte für Klimaschutz: Die CSU-Politikerin will unbedingt den Klimaschutz vorantreiben, unter Berücksichtigung ökonomischer und ökologischer Aspekte, außerdem "müssen wir alle Bürger mitnehmen und für Klimaschutz begeistern". Ziel sei eine CO2-Reduzierung um 55 Prozent bis 2030. Es müsse unbürokratische steuerliche Förderungen geben, "wenn Bürger ihre Häuser energetisch" sanieren, denn ein Drittel des CO2-Ausstoßes in Deutschland komme über Gebäude zustande. Auch die Mobilitätswende sei ein Baustein, es müsse darum gehen, dass man sich sich sowohl in der Stadt als auch auf dem Land "möglichst klimafreundlich fortbewegt". Dazu sei es notwendig, den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) auszubauen und "auch die kleinsten Dörfer anzuschließen". Man könne aber Großstädte wie München nicht mit der Situation im ländlichen Raum vergleichen, "individuelle Mobilität braucht es trotzdem". Sie plädierte für eine Technologie-Offenheit. Es gebe Bereiche, in denen Elektroantriebe sinnvoll sind, aber an manchen Stellen wiederum nicht praktikabel, insbesondere im Bereich Fernverkehr (Flugverkehr, Fernbusse). Hier könnten etwa auch synthetische Kraftstoffe (sogenannte klimafreundliche E-Fuels) zum Einsatz kommen, somit könnte auch die bestehende Infrastruktur weiter genutzt werden.
Das sagte Hans-Jürgen Schneider, ZF Standortleiter Schweinfurt: Bei der Mobilität der Zukunft setzt Hans-Jürgen Schneider, Standortleitung der ZF Friedrichshafen AG, auf "sowohl als auch und nicht auf entweder oder". In Schweinfurt sei sein Unternehmen extrem von der Mobilität abhängig, stelle Tausende Arbeitsplätze als Zulieferer der Automobilindustrie. Seiner Einschätzung nach wird die Hybrid-Technologie immer wichtiger. Von der Regierung in Berlin fordert Schneider verlässliche Vorgaben, denn jedes Klimaschutzkonzept sei besser als keine Lösung. Seien erst einmal Eckdaten bekannt, dann werde die Industrie investieren, denn diese wolle produzieren, wolle Projekte voranbringen. Schneider geht nicht davon aus, dass die deutche Automobilindustrie beim E-Mobil international das Nachsehen hat. Vielmehr werde diese mit soliden und besseren Produkten für Überraschungen sorgen – auch bei der Produktion, in der die ZF AG künftig verstärkt den Strom aus eigenen Solaranlagen einsetzen werde.
Das sagte Hagen Fuhl von Senertec (Kraft-Wärme-Energiesysteme): Als Partner der erneuerbaren Energien stufte Hagen Fuhl die Blockheizkraftwerke der Firma Senertec ein. Mit der Wasserstofftechnologie sei man auch bereits auf dem Weg zur komplett klimaneutralen Erzeugung von Kraft und Wärme. Laut dem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit von Senertec steht ein entsprechendes Forschungsprojekt in den Startlöchern. Vom der Gesetzgebung erwartet Fuhl ein schnelleres Reagieren auf neue Technologien. Diese Innovationen dürften durch den Hang zur Regulierung nicht ausgebremst werden. Ähnliches gelte für die Akzeptanz neuer Techniken in der Bevölkerung, die man nicht mit bürokratischen Hürden verschrecken dürfe. Für Verlässlichkeit und Planbarkeit nahm Fuhl die Politik in die Pflicht, Tugenden, die für die Produkte von Senertec selbstverständlich seien.