Am Dienstagvormittag fällt der Unterricht für Uliana Adamenko erst einmal aus. Was andernorts Schülerinnen und Schülern vielleicht ein "Hurra" entlocken würde, ist für die Sechstklässlerin kein Grund zur Freude. Für die Elfjährige ist Schule nicht nur Unterricht, sondern die Verbindung zu ihrem Leben, wie sie es vor dem Angriff der Russen auf die Ukraine hatte. Am 17. März floh sie mit ihrer Familie, Eltern und ein vierjähriger Bruder, aus dem ukrainischen Charkiw.Die Adamenkos hatten Glück, die Familie wurde nicht auseinandergerissen. Seit ihrer Ankunft in Schweinfurt haben sie in den Schweinfurter Ledwards eine Bleibe gefunden.
Damals war der Krieg in der mit 1,5 Millionen Einwohnern zweitgrößten Stadt der Ukraine angekommen. Nach dem Abzug der russischen Truppen rund um die Hauptstadt Kiewleidet Charkiw im Südosten wieder verstärkt unter russischen Angriffen. Deshalb fiel am Dienstagvormittag auch der Unterricht aus. Kein Strom, die Internetverbindung ist instabil, ist aus Charkiw zu hören, berichtet Ulianas Mutter Iryna. "Wahrscheinlich wurde bei einem Angriff etwas beschädigt, was repariert werden muss." Am Nachmittag soll es weiter gehen mit dem Online-Unterricht aus der Ukraine, der trotz des Krieges täglich angeboten und beinahe von allen schulpflichtigen ukrainischen Kindern, die noch nicht in eine Willkommensgruppe an einer deutschen Schule integriert sind, wahrgenommen wird.
Wie läuft das mit dem Online-Unterricht aus der Ukraine, einem Land, das angesichts des Krieges eigentlich vor anderen Herausforderungen steht, als ein Unterrichtsangebot für seinen Nachwuchs aufrechtzuerhalten? "Es läuft gut und zuverlässig", berichtet Iryna Adamenko, übersetzt von Antonina Sarkanitsch, die schon seit mehreren Jahren in Schweinfurt lebt. Der Dienstag sei der erste Tag gewesen, an dem der Unterrichtsblock wegen Verbindungsproblemen auf den Nachmittag verlegt werden musste.
Um 7.30 Uhr beginnt der Unterricht aus der Ukraine
"Es ist wie zu Hause, um 7.30 Uhr beginnt der Unterricht, halt eben nicht im Klassenzimmer, sondern an Laptop, Handy oder Tablett", beschreibt Uliana ihren Schulalltag an einem Schreibtisch gleich neben den beiden Feldbetten, in denen die Eltern schlafen. Home-Schooling im klassischen Sinn mit 45-minütigen oder einstündigen Unterrichtseinheiten, wie ihn die Schülerin auch schon vor dem Krieg erlebt haben, als die Schulen wegen Corona geschlossen waren.
Geschichte, Erdkunde, Ukrainisch, Mathematik, Englisch als Fremdsprache. Auch Russisch wird unterrichtet. Für ukrainische Kinder keine echte Fremdsprache, weil beide Sprachen zwar miteinander verwandt sind, aber doch nicht so nah, dass man sie gegenseitig fast wie von selbst verstünde.
Was diesen Online-Unterricht aus der Ukraine so besonders macht, sind die Umstände, unter denen er entsteht, berichten die Frauen. Die Schulen in der Ukraine sind, auch wenn noch unversehrt, geschlossen. Schulhäuser werden von Menschen, die ihr Zuhause verloren haben, aber im Land geblieben sind, als Unterkunft genutzt, die Keller wurden oft zu Schutzräumen.
Online-Unterricht bringt Struktur in den Tag
Die Lehrerinnen und Lehrer senden aus ihren Wohnungen, selbst aus Schutzräumen werden Unterrichtseinheiten in die Welt geschickt. Ulianas Geschichtslehrer ist nun in der Armee, eine Volontärin hat übernommen. Der Lehrer für Ukrainisch verteidigt ebenfalls sein Land, seine Frau organisiert den Unterricht.
Corona hat wirklich kaum Gutes, ein Vorteil ist, dass Schülerinnen und Schüler bereits Erfahrungen mit Online-Unterricht sammeln konnten. Zoom-Konferenzen zur Schulstunde zu machen, funktioniert auch über Ländergrenzen hinweg. So hilft der Online-Unterricht nicht nur die Bildung voranzubringen, sondern auch dem Tag Struktur zu geben, Freundschaften zu pflegen und sich bei den Hausaufgaben zu unterstützen, so die Erfahrung von Iryna Adamenko. Sie weiß es zu schätzen, dass ihre Tochter schon kurz nach der Ankunft in Schweinfurt wieder den Unterricht aufnehmen konnte.
Etwa die Hälfte der Jungen und Mädchen aus ihrer Klasse haben die Ukraine verlassen, erzählt Uliana, aber alle – egal ob noch in der Ukraine, oder ins Ausland geflohen– nehmen am täglichen Online-Unterricht teil. "Es geht nicht um eine Pflicht, alle wollen mitmachen", so die 11-Jährige. Während Corona habe es sogar Online-Betreuung für Kindergartenkinder in der Ukraine gegeben, berichtet Iryna Adamenko. Da wurden zum Beispiel aus der geschlossenen Kita heraus Online-Bastelangebote für Vorschulkinder gemacht.
SIM-Karten mit unbegrenzter Datennutzung für Flüchtlinge
Und wie sieht es mit der Internetverbindung aus? Keine Probleme, berichten die Frauen. Ein namhafter deutscher Telekommunikationsanbieter habe den geflüchteten Kindern kostenlose SIM-Karten mit unbegrenzter Datennutzung für ein halbes Jahr zur Verfügung gestellt. Es komme kaum zu Unterbrechungen und Ausfällen, sogar Klassenarbeiten könnten durchgeführt werden, ein elektronisches Schul-Tagebuch wird geführt, Hausaufgaben werden kontrolliert und benotet.
Ende Mai endet in der Ukraine übrigens schon das Schuljahr, es folgen drei Monate Sommerferien, dafür gibt es zum Beispiel auch keine Osterferien ab nächster Woche. Der Situation geschuldet, wurden in der Ukraine für dieses Jahr wichtige Prüfungen, wie zum Beispiel das Abitur, ausgesetzt. Dennoch dürften Schülerinnen und Schüler, die die letzte Klasse der dem Gymnasium vergleichbaren Schule absolviert haben, nach den Sommerferien eine Universität besuchen.
Bis Uliana vor solchen Entscheidungen steht, ziehen noch ein paar Jahre ins Land. Was unmittelbar bevorsteht, ist die nächste Unterrichtseinheit. Die Leitung steht, Schulbeginn 12.30 Uhr und dann den ganzen Nachmittag. Zum Einstieg gibt's einen Überblick über die Klassiker der Weltliteratur. Bei einem Spaziergang unter wolkenverhangenem Himmel spricht die Lehrerin mit dem Handy in der Hand über Bücher, die die Welt bewegten und alle wünschen sich, dass diese Schulstunde nicht von einem Luftalarm unterbrochen wird.