Sie hat so ziemlich alles erreicht, was man als Autorin erreichen kann. Gudrun Pausewang ist eine Kämpferin, eine Frau klarer Worte. Bis heute nimmt sie kein Blatt vor den Mund, zeichnet sehr genaue Bilder von der Gesellschaft und vor allem von dem, was in dieser Gesellschaft im Argen liegt. Umweltschutz treibt sie besonders um. In den 60-er Jahren schon genauso wie heute noch. Mit ihrem Kampf gegen Atomkraft und der schonungslosen Offenbarung der Folgen nach einem Unfall ist sie international bekannt geworden: Ihr Jugendbuch „Die Wolke“ ist ein Klassiker. Ein Roman unter mehr als 100 Pausewang-Büchern – und doch der, mit dem sie seit seinem Erscheinen 1987 in Zusammenhang gebracht wird. Der an ihr klebt wie ein Kaugummi, der nicht vertrocknet.
„Die Wolke“ – Zu brutal?
Denn Atomkraft ist Thema. Gestern wie heute. Und Gudrun Pausewang wird immer die sein, die „Die Wolke“ geschrieben hat. Die den fiktiven Super-GAU im unterfränkischen Kernkraftwerk Grafenrheinfeld derart dicht und atmenlos, faktenreich und doch so unglaublich emotional schildert, dass die Bilder im Kopf stellenweise nur schwer zu ertragen sind. Eltern jeder Generation schrien und schreien bis heute in schöner Regelmäßigkeit auch auf: „Das ist zu brutal! Das ist nichts für Kinder und Jugendliche!“
Gudrun Pausewang nickt dann stets verständnisvoll und sagt aber etwas ganz anderes. Auch bei einem Besuch dieser Redaktion 2015 in ihrem langjährigen Zuhause im hessischen Schlitz, einer Kleinstadt nahe Fulda, erklärte sie: „Ich bin der Ansicht, dass Kinder schon einiges an Wahrheit vertragen. Dass es in nicht immer ein Happy End gibt. Und man sollte die Angst nicht so verteufeln!“ Angst diene als Warnung und helfe den Menschen, zu überleben. „Die Wolke“, so Pausewang, habe sie mit voller Absicht als Roman und nicht als Sachbuch geschrieben: „Der Mensch ist am ehesten über Emotionen zu erreichen.“
Bewegtes Leben
Gudrun Pausewang versteht einiges vom Leben. Das ist nicht nur dem Umstand geschuldet, dass sie schon so lange auf Erden weilt, sondern dem, was sie im Leben erlebt und gesehen hat. Die ehemalige Grundschullehrerin hat ihren Schülern so einiges aus ihrem Schatzkästchen der Erinnerung mitgeben können. Die Autorin stammt aus dem Sudetenland, ihr Vater fiel im Krieg als sie 15 Jahre als war. Pausewang zog es hinaus in die Welt, sie lebte lange Zeit in Südamerika, beobachtete und analysierte das Leben der anderen. Und machte daraus Romane und Geschichten, die alle „Der Wolke“ in ihrer Intensität in nichts nachstehen – und doch nie so erfolgreich wurden wie dieser Jugendroman vom Atomunfall in Unterfranken.
Der „Wolke“ schickte Pausewang 1983 eine ähnliche Geschichte voraus. In „Die letzten Kinder von Schewenborn“ klärte die überzeugte Pazifistin und Atomkraftgegnerin schon in fast unheimlicher Vorahnung auf die Katastrophe 1986 im russischen Tschernobyl über die Folgen eines Super-GAU auf.
Bescheiden und wortgewaltig
Die kleine, rundliche Frau mit dem frechen Kurzhaarschnitt ist kein Mensch, der sich gern im Mittelpunkt sieht. Wenn es aber darum geht, für eine wichtige Sache einzustehen, etwas zu bewegen, dann ist sie mittendrin. Dann kämpft die bescheidene und leise Frau wortgewaltig. Dann bekommen die Zeilen ihrer zeitkritischen Geschichten eine Stimme. Ob in Lesungen, als Laudatorin, als Schirmherrin, als prominenter Gast bei öffentlichen Großveranstaltungen wie 2015 beim Fest anlässlich der Abschaltung des Kernkraftwerkes Grafenrheinfeld (Lkr. Schweinfurt), Gudrun Pausewang ist da, wo sie gebraucht wird. Beruflich oder privat.
Privat, das bedeutet für sie Familie. Sohn und Schwiegertochter leben mit ihren sechs Kindern in Bamberg. Genau dorthin ist die Autorin vor zwei Jahren nach einem Sturz gezogen. Sie lebt in einem nahegelegenen Seniorenheim – und kommt vom Schreiben noch immer nicht ganz los. „Vom Briefeschreiben“, so Pausewang. Bücher, so sagte sie jüngst gegenüber der Deutschen Presseagentur, wolle sie bewusst nicht mehr schreiben. „Mein Erinnerungsvermögen nimmt ab. Ich traue mich nicht mehr.“
„Ich traue mich nicht“, dürfte ein Satz sein, den Gudrun Pausewang im Leben nicht häufig, wenn gar überhaupt nicht verwendet hat. Schreiben war für sie zeitlebens keine Arbeit, sondern leidenschaftliches Tun. Dass sie nun leidenschaftlos geworden sein könnte, weil sie eine ganz bewusste Entscheidung aus gutem Grund getroffen hat, steht indes nicht zu befürchten. Sie ist weiterhin unterwegs für die gute Sache. Vielleicht nicht mehr so schwungvoll wie vor drei Jahren, als sie die 51 Stufen zu ihrem Haus mühelos rauf und runter lief – aber mit der gleichen geistigen Klarheit und dem Blick für die wichtigen Dinge im Leben.
Der Räuber Grapsch
Und zu denen gehören jetzt in erster Linie ihre Enkelkinder. Die sind im besten Vorlese- und Lesealter. Für Gudrun Pausewang ein echtes Geschenk, nicht nur zum 90. Geburtstag. Und umgekehrt: Welches Kind würde sich nicht wünschen, eine so brillante Geschichtenerzählerin zur Oma zu haben? Die Frau, die den wunderbaren „Räuber Grapsch“ erfunden hat. Oder „Die Seejungfrau in der Sardinenbüchse“.
Die Auszeichnungen für Gudrun Pausewang reichen vom „Buxtehuder Bulle“ 1977 über das Bundesverdienstkreuz 1999 bis hin zum Deutschen Jugendliteraturpreis für ihr Lebenswerk. Den bekam sie im vergangenen Jahr überreicht. Und auch wenn sie keine Bücher mehr schreibt: Gudrun Pausewang ist auch mit 90 Jahren mittendrin im Leben. Und sie ist dabei, wenn es um wichtige Gesellschaftsthemen wie die Abschaltung des Kernkraftwerkes in Grafenrheinfeld. Das ist sicher. So sicher wie „Die Wolke“ auch die nächste Generation Schüler erreichen wird.