"Schweinfurt wird jetzt schon leer sein – vorausgesetzt, der Katastrophenschutz hat funktioniert.“ „Wieso Schweinfurt?“, fragte Janna-Berta erschrocken. „Du stellst Fragen“, sagte Lars und kaute nervös an der Unterlippe. „Weil Schweinfurt direkt neben Grafenrheinfeld liegt – oder Grafenrheinfeld neben Schweinfurt, wie du willst.“
Janna-Berta hielt den Atem an. „Wenn's ein Super-GAU war, kannst du den Katastrophenschutz vergessen“, hörte sie den Jungen hinter sich sagen. „Dann brauchen die in Schweinfurt nur noch Totengräber und Spezialisten für Transplantationen von Knochenmark.“ „Nur in Schweinfurt? Bist du sicher?“, sagte Lars düster. „In Schweinfurt . . . in Schweinfurt sind heute meine Eltern“, sagte Janna-Berta. Die vier Jungen verstummten.
Es ist das Jahr 1987, als sich Schriftstellerin Gudrun Pausewang an ihren Schreibtisch setzt und einen Jugendroman schreibt, der es in sich hat. „Die Wolke“ geht um die Welt, wird ein Bestseller, ein Klassiker. Es ist das Jahr nach der Kernkraftwerkkatastrophe im russischen Tschernobyl, als die engagierte Atomkraftgegnerin die fiktive Geschichte eines solchen Unglücks in einer dicht besiedelten Region beschreibt.
Es ist die Geschichte eines Super-GAUs im unterfränkischen Kernkraftwerk Grafenrheinfeld. Und es ist die Geschichte der 14-jährigen Janna-Berta aus Schlitz. Einer kleinen Stadt in der Nähe von Fulda. Dort, wo Gudrun Pausewang seit den 70er Jahren lebt und arbeitet. Früher als Grund- und Hauptschullehrerin, später hauptberuflich als Schriftstellerin.
Die Rapsfelder leuchteten gelb. In zwei Wochen war Pfingsten. „Lebt“, dachte Janna-Berta, „bitte lebt!“
Beim Reaktor-Abschaltfest in Schweinfurt am Sonntag, bei dem Gudrun Pausewang Schirmherrin ist, leuchten die Rapsfelder wieder gelb. Alles sieht so friedlich aus. Wie im Roman an dem Tag, als es passierte. Die 14-jährige Janna-Berta hat am Ende alles verloren, ihre Eltern, ihren kleinen Bruder, Freundinnen und Freunde.
Panik ist stärker als jeder Plan
Es hat nichts wirklich funktioniert nach dem Unfall im Roman. Sicherheitsvorkehrungen, Rettungspläne, Evakuierungsmaßnahmen. Panik ist stärker als jeder Plan. Auch in der Realität gibt und gab es viele Pläne rund um die Sicherheit des Atomkraftwerkes Grafenrheinfeld. Der wichtigste Plan für 2015, die offizielle Abschaltung des Reaktors, ist vom Betreiber verschoben worden. Quasi in letzter Sekunde. Das Fest wird trotzdem stattfinden. Und Gudrun Pausewang nach Schweinfurt reisen.
Janna-Berta schaute hinauf zum Hügel oberhalb der Stadt. Dort oben stand ihr Haus. Uli wartete wahrscheinlich schon auf sie. Zehn Minuten entfernt. Wenn sie lief, acht, vielleicht sieben. Sie rannte los. Da lag es, spitzgiebelig, mitten im Grünen hinter der Birkengruppe. Die Sonne spiegelte sich im Fenster von Janna-Bertas Zimmer, darüber blühten – in diesem Jahr besonders üppig – die Geranien am Balkon der Großeltern.
Auch heute spiegelt sich hier an diesem Fenster die Sonne. Es ist nicht das Zimmer von Janna-Berta. Aber es ist das Fenster und das Haus, das Gudrun Pausewang im Kopf hat, als sie „Die Wolke“ schreibt. Ihr Haus in Schlitz. Hoch über den Dächern der Stadt mit den vielen Burgen und Fachwerkhäusern. „Es sind 51 Stufen zu mir hinauf“, sagt Gudrun Pausewang. Und dass sie heute schon dreimal unten am Briefkasten gewesen sei.
Kein Wunder, dass die 87-Jährige so fit ist. Die Schriftstellerin geht voraus, durchs Wohnzimmer mit den hellen Holzmöbeln, hinaus auf den Balkon. Geranien wie bei Janna-Bertas Oma im Roman blühen hier nicht. Noch nicht. „Ich habe für meinen Vortrag im Bürgerhaus von der Stadt schöne Geranien bekommen, die pflanze ich hier ein.“
Ein Buch mit unheimlicher Vorahnung
Gudrun Pausewang lächelt leise. Und wenn sie spricht, dann spricht sie mit Bedacht. Die ehemalige Grundschullehrerin hat ein bewegtes Leben hinter sich. Sie hat lange Zeit in Südamerika gelebt und das Erlebte in vielen Büchern festgehalten. Bevor sie 1987 mit „Die Wolke“ weltweit bekannt wurde, hat die überzeugte Pazifistin und Atomkraftgegnerin schon 1983 mit „Die letzten Kinder von Schewenborn“ in fast unheimlicher Vorahnung auf die Atomkatastrophe im russischen Tschernobyl im April 1986 ein Buch vorgelegt, das schonungslos aufklärt über das, was die Menschen erwartet, wenn die Erde atomar verseucht ist.
„Ich habe mir auch die Szenarien in der ,Wolke' nicht komplett ausgedacht. Die ,Ärzte warnen vor der Atomkraft' haben schon Ende der Siebziger ein Heftchen verteilt, in dem die Gefahren einer atomaren Verstrahlung populärwissenschaftlich erklärt worden sind.“
Dass aus der Idee zur „Wolke“ ein Jugendroman wurde, war kein Zufall: „Ich habe für meine Warnung mit voller Absicht nicht die Form eines Sachbuches, sondern die des Romans gewählt“, sagt Gudrun Pausewang. „Der Mensch ist am ehesten über Emotionen zu wecken.“ Weil es damals schon viele Bücher zu dem Thema für Erwachsene gab, hat sie sich für einen Jugendroman entschieden. „Jugendliche, die in diese Welt hineinwachsen, haben ein Recht darauf zu erfahren, was passieren kann.“ Das bringt ihr bis heute auch Kritik von Eltern ein, denen die schonungslose Offenheit in der häufig im Schulunterricht gelesenen Lektüre viel zu hart erscheint. „Warum schreiben Sie so brutal?“, wird sie immer wieder gefragt.
Pausewang: "Auch Kinder vertragen die Wahrheit."
Pädagogin Pausewang stellt sich der Kritik. „Ich bin der Ansicht, dass auch Kinder schon einige Wahrheit vertragen. Etwa, dass es nicht immer ein Happy End gibt. Oder die Guten immer belohnt und die Bösen immer bestraft werden. Die Welt ist nicht heil, ist nicht gerecht. Und man sollte die Angst nicht so verteufeln. Angst dient als Warnung und hilft uns, zu überleben.“ Sie wolle, so sagt Gudrun Pausewang, ihre Leser ernst nehmen. „Egal, ob sie sechs, 16 oder 60 sind!“
„Uli muss mit“, sagte Janna-Berta. „Uli?“, fragte die Frau. „Du meinst . . .“ Janna-Berta warf den Kopf zurück und und sah die Frau mit einem wilden Blick an. „Er ist mein Bruder!“ schrie sie. „Du kannst ihm nicht mehr helfen“, sagte der Bärtige leise.“ Das Hupkonzert wurde immer lauter. Eine Stimme schrie: „Macht den Weg frei – oder wir helfen nach!“
Das Chaos, das Pausewang in ihrem spannenden, dichten, in atemlosen Tempo geschriebenen Roman nach der Katastrophe in Grafenrheinfeld skizziert, ist ein Albtraum. Und heute? Was wäre heute, fast 30 Jahre später? Wären wir besser vorbereitet? „Nein“, sagt die Schriftstellerin. Und sie sagt es mit Bedacht. Schaut von ihrem Balkon hinunter auf die Straßen von Schlitz, dorthin, wo sich im Fall der Fälle in der Realität wohl die gleichen Szenen abspielen würden wie im Roman. Die Kinder hätten andere Namen. Aber das gleiche Schicksal wie Janna-Berta. Vorausgesetzt, sie würden eine atomare Katastrophe in Grafenrheinfeld überleben.
Janna-Bertas Herz schlug schneller: Außer Oma Bertas herrlicher Geranien, die verschwunden waren, schien alles so wie immer. Sie brauchte nur die 51 Stufen den Hang hinaufzuspringen und so stürmisch zu schellen, wie sie es immer getan hatte. Dann würde die Tür aufgehen, und Mutti stünde im Türrahmen und sagte: „Da bist du ja.“
Doch Janna-Bertas Mutter, ihr Vater, ihre Brüder sind tot. Im Türrahmen steht jetzt Gudrun Pausewang. „Wir sehen uns beim Abschaltfest. Solange ich lebe, werde ich warnen!“ Sie winkt noch einmal, dann kehrt sie zurück zu ihrem Schreibtisch. Dorthin, wo sie seit vielen Jahren ihre Warnungen in Worte fasst.
Gudrun Pausewang
Gudrun Pausewang, geboren 1928 im Sudetenland, gehört zu den wichtigsten deutschen Kinder- und Jugendbuchautoren, hat aber auch viele Erwachsenenbücher geschrieben. Ihre Werke wurden vielfach ausgezeichnet und in zahlreiche Sprachen übersetzt. In den 50er und 60er Jahren lebte sie in Südamerika, bevor sie Anfang der 70er Jahre nach Deutschland zurückkehrte. Pausewangs erfolgreichstes Werk ist der international bekannte Roman „Die Wolke“. Darin beschreibt sie die Folgen einer Reaktorkatastrophe im Atomkraftwerk Grafenrheinfeld. „Die Wolke“ entstand 1987 und wurde 2006 fürs Kino verfilmt. Die ehemalige Grundschullehrerin lebt im Städtchen Schlitz nahe Fulda, wo auch „Die Wolke“ um die 14-jährige Schülerin Janna-Berta spielt. Pausewang hat einen Sohn und sechs Enkelkinder.