Das, was er gesehen hat in der Türkei, in der von dem Erdbeben stark betroffenen Großstadt Kahramanmaraş, hat bei Marco Pfister Spuren hinterlassen. Er findet zwischendurch noch nicht die richtigen Worte für das Erlebte. "Es ist fast unmöglich, das zu beschreiben", sagt der Bestatter aus Schweinfurt: die Menge der Toten, wie die Menschen dort überrascht worden sind und wie die Überlebenden heute vor den Trümmerhaufen stehen und nichts mehr haben.
Der 38-Jährige war vor zwei Wochen mit einer Gruppe des Vereins "DeathCare Embalming-Team Germany" von Frankfurt in das Krisengebiet gereist, um den örtlichen Einsatzkräften bei der Bergung, Desinfektion und Identifizierung von Toten zu helfen – etwa, indem sie Finger, die ausgetrocknet waren, aufspritzten, um einen Fingerabdruck nehmen zu können.
Es war beinahe ausgeschlossen, lebendige Menschen zu bergen
Pfister und die anderen Ehrenamtlichen lösten eine erste Delegation deutscher Bestatter ab, die bereits vier Tage nach dem verheerenden Beben in die Türkei gereist war. Während dieses erste Team noch Lebende bergen konnte, tendierten die Chancen darauf in der zweiten Gruppe um Pfister gegen Null. Denn selbst wenn man noch jemanden gefunden hätte, seien die Überlebenschancen nach solch einer langen Zeit unter den Trümmern schlecht, erklärt der Schweinfurter.
Die Gruppe von Bestattern und geprüften Thanatopraktikern, also Spezialisten für die Einbalsamierung, Rekonstruktion und Konservierung von Verstorbenen, kam - so schlimm es sich anhören mag - wegen der Toten. Um ihnen die letzte Ehre zu erweisen, ihnen einen Namen zu geben.
Marco Pfister hat zwei Tage vor Abreise erfahren, dass er dabei sein wird. Sein Chef Ralf Michal ist Präsident des Bundesverbands Deutscher Bestatter und war einen Tag nach dem Beben im Kanzleramt in Berlin, um auf die Arbeit der Ehrenamtlichen aufmerksam zu machen. Für den 38-jährigen Pfister war es der erste Einsatz in einem Krisengebiet, die türkische Regierung hat die Flugkosten der Delegation übernommen.
Menschen vor Ort feiern Helfende wie Helden
Für die Menschen in der Türkei scheinen die Helfer aus Deutschland, so lassen es die Erzählungen vermuten, so etwas wie Superhelden gewesen zu sein. Schon am Flughafen seien sie mit Applaus empfangen worden, berichtet Pfister. Im Flugzeug habe man sie teilweise in die teurere Business-Class umziehen lassen und wenn sie sich in eine Essensschlange hinten anstellten, seien sie nach vorne geholt worden.
Der Schweinfurter erinnert sich im Gespräch, wie er am ersten Abend mit anderen Helfern durch das Krisengebiet lief, als plötzlich ein Auto neben ihnen anhielt. Der Fahrer habe sie angesprochen, verstanden hätten sie nichts. "Dann sprangen drei Männer heraus, man denkt erst einmal, was haben wir falsch gemacht", erzählt er. "Und dann hatte der erste Mann eine Teekanne, der zweite die Becher und der dritte Gebäck in der Hand."
Bestatter arbeiteten sich von oben nach unten durch die Trümmer
Eine wichtige Stütze seien die beiden Dolmetscher gewesen, die das Team begleiteten. "Sie waren die Türöffner da", sagt Pfister. Aber sie hätten natürlich von den Angehörigen auch "die volle Welle abbekommen". Oft hätten diese neben den Trümmern ausgeharrt und gesagt, wo sich noch Personen befinden könnten. "Man hat sich langsam von oben nach unten gearbeitet", sagt Pfister. Und wenn man die ersten persönlichen Sachen gefunden habe, dann habe man sie den Angehörigen gezeigt. "Die sagten dann: 'Das sind die Sachen vom Nachbarn zwei Stockwerke darüber'. Dann wussten wir: Wir müssen noch tiefer."
Normalerweise ist der Tote schon da, wenn der Bestatter mit seiner Arbeit beginnt. "Und er ist gut zugänglich", sagt Pfister. Doch in der Türkei, auf den "Baustellen", wie das Team die Schutthaufen nannte, habe man viele Tote erst freilegen, vorsichtig aus den Trümmern herausnehmen müssen. "Es ist staubig, es ist laut durch die ganzen Maschinen und man muss aufpassen, dass nicht irgendwas nachrutscht, wenn man am Hang arbeitet."
Pfister zeigt das Bild eines einsturzgefährdeten Gebäudes auf einem Fernseher. Die "7", die mit roter Farbe auf Stein geschrieben wurde, zeige die ursprünglichen Stockwerke an, erklärt er. Die weiteren roten Zahlen sollen zeigen, wie viele Menschen aus welchem Stockwerk sich dort befinden könnten. Doch in diesem Fall seien diese für die Bestatter unerreichbar gewesen: "Bei so einem Haus fängt man gar nicht an", sagt Pfister. Zu groß sei die Gefahr, von den anderen Stockwerken begraben zu werden.
Völlig überfüllter Friedhof in der Stadt
Pfister war während seines einwöchigen Einsatzes auch bei einem Besuch des Friedhofs in der Stadt dabei, auf dem alleine 7000 Opfer begraben liegen. Bilder zeigen, wie aus dem Boden Holzschilder ragen, mit den Namen der Toten darauf, oder Nummern, wenn sie noch nicht identifiziert wurden. "Das ist jetzt eine enorme Nacharbeit für die Türkei", sagt der 38-Jährige.
"Was vielen nicht bewusst ist: Über die Hälfte der Toten sind Kinder", sagt Bestattungsunternehmer Ralf Michal. Man wisse zwar, man habe es mit Verstorbenen zu tun, aber so viele Kinder habe man im täglichen Arbeitsleben nicht. Michal, der mit den Teams in regelmäßigem Kontakt stand, sagt: "Das betrifft die noch mehr, die selbst Kinder haben."
Die Delegation aus Deutschland bestand ausschließlich aus Männern. Weil eine Frau im Team auf engem Raum mit den Männern hätte schlafen müssen, habe man befürchtet, Umstände zu machen, sagt Marco Pfister. "Weil es ein muslimisch geprägtes Land ist. Wir wollen keinen Ärger, man muss die Kultur dort respektieren."
Bestatter will wieder in die Türkei reisen
Einen Tag vor der Abreise von Pfisters Gruppe gab es ein schweres Nachbeben, sodass das Team die Nacht bei der Feuerwehr verbringen musste. Ihre ursprüngliche Unterkunft, eine ausgeräumte Bibliothek, war einsturzgefährdet.
Am Ende des Einsatzes, sagt der Schweinfurter Bestatter, sei eine enge Bindung zu den Helfenden vor Ort entstanden. "Wir haben gesagt, dass wir in zwei, drei Jahren noch einmal hinfliegen wollen, um zu sehen, wie es sich entwickelt hat." Und wenn es noch einmal eine Katastrophe gibt, bei der DeathCare helfen wird? Marco Pfister ist sich sicher: "Wenn wieder so etwas ist, bin ich wieder dabei."