Kirchenaustritte nehmen zu. Für manche, die sich der Kirche verbunden fühlen, sind diese Zahlen erschreckend. Und diejenigen, die der Kirche eher kritisch gegenüberstehen, mögen sich freuen, dass die Kirche immer mehr Einfluss im öffentlichen Leben verliert. 29 Frauen und Männer aus Gerolzhofen sind im vergangenen Jahr aus der katholischen Kirche ausgetreten. In der Pfarreiengemeinschaft St. Raphael (Unterspiesheim, Oberspiesheim, Gernach) waren es 15 Personen.
Es sind Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten und aus allen Altersgruppen. Auch ältere Personen - sogar bis ins hohe Alter - entschließen sich, die Kirche zu verlassen. Gründe, die für den Austritt angegeben werden: der Missbrauchsskandal, die Bilanz, dass die Kirche für das persönliche Leben keine Bedeutung mehr hat, die durch Corona bedingten Einkommenseinbußen, die zum Entschluss führen, die Kirchensteuern einzusparen, persönliche Enttäuschungen durch Kirchenvertreter.
Jüngere Leute treten "einfach so" aus, weil sie keine Geschichte mit der Kirche verbinden. Für Ältere hingegen ist der Entschluss, der institutionalisierten Kirche den Rücken zu kehren, oft gar nicht so einfach, weil sie damit auch Abschied nehmen von einer Zeit, in der sie sich als Teil der Kirche fühlten, ja sogar das kirchliche Leben vor Ort noch aktiv mitgestaltet haben.
Namen der Redaktion bekannt
In loser Folge sollen in den kommenden Tagen Frauen und Männer zu Wort kommen, die erzählen, welche Gründe sie veranlasst haben, die Kirche zu verlassen. Statistische Zahlen und allgemeine Angaben zum Kirchenaustritt sind allgemein bekannt. Wenig wird jedoch berichtet, was genau Frauen oder Männer an bestimmten Punkten ihrer Lebensgeschichte zu dem Entschluss gebracht hat, auszutreten. Die Namen der Personen, die über ihren Kirchenaustritt berichten, sind der Redaktion bekannt, werden im Artikel anonymisiert.
Frau A. ist homosexuell. Der letzte, entscheidende Impuls für ihren Austritt: ihre Eltern. Sie waren beide in der Kirche engagiert und auch regelmäßige Gottesdienstbesucher. Wie wichtig der Glaube für die Eltern von Frau A. war, zeigte sich auch darin, dass ihre Mutter einst von der evangelischen Kirche zur katholischen Kirche übertrat, damit die Kinder in einem Glauben erzogen werden konnten. Die Eltern teilten ihrer Tochter eines Tags mit, dass sie den Umgang der Kirche mit Homosexualität nicht länger akzeptieren können und deshalb ausgetreten seien. Für den Vater kam noch hinzu, dass die Kirche - trotz HIV - den Gebrauch von Kondomen ablehnte.
Berufliche Nachteile?
Frau A. selbst hatte schon früher erwogen auszutreten: Sie fühlte sich durch die Aussagen der Kirche zur Homosexualität herabgesetzt, ausgeschlossen. Der Grund für ihr längeres Zögern: Sie wollte Kinderärztin werden. Viele Kinderkrankenhäuser sind aber in kirchlicher Trägerschaft. Sie befürchtete deshalb, dass sie keine Anstellung finden würde, wenn sie nicht mehr Mitglied in der Kirche sei...
Empörend fand sie auch, als sie während eines Aufenthaltes in Mexico als Studierende im Umfeld der Kathedrale von La Guadelupe in einem Schaukasten eine Serie von Puppen fand, die die Entwicklung des Kindes im Mutterleib darstellen sollten. Als Medizinerin fiel ihr sofort auf, dass die Darstellung, insbesondere in den frühen Stadien der Schwangerschaft, den tatsächlichen Entwicklungsstadien nicht entsprachen und irreführend war. Dies fand Frau A. besonders empörend, da in Mexico viele Bewohner, insbesondere Frauen, nicht lesen und schreiben können und diesen Darstellungen vertrauten. Diese Puppen waren von Abtreibungsgegnern verantwortet.
Extrem widersprüchlich
Im scharfen Kontrast dazu standen ihre Erfahrungen in der Klinik: Sie hatte es mit Mädchen und Frauen zu tun, die schon im Alter von weniger als 19 Jahren ihr drittes oder viertes Kind auf die Welt brachten. Immer wieder hatte sie es mit Fällen zu tun, in denen die jungen Frauen durch Inzest schwanger geworden waren. Wenig aufgeklärt, wurden sie gezwungen, die Kinder auszutragen. Viele Kinder wurden mit Missbildungen und Deformationen geboren. A. erlebte es damals als extrem widersprüchlich, dass der Fokus auf dem ungeborenen Leben lag, während den Lebenswelten der jugendlichen Mütter kaum Aufmerksamkeit geschenkt wurde, sie kaum Möglichkeiten der Sexualberatung und Aufklärung hatten.
Blickt Frau A. zurück, dann war das Leben mit der Kirche und in der Gemeinde für sie doch ein wichtiger Erfahrungsraum. Sie besuchte den katholischen Kindergarten, der sonntägliche Gottesdienstbesuch war selbstverständlich. Sie war Ministrantin bis zu ihrem 16. Lebensjahr. Gern erinnert sie sich an die Jugendfreizeiten in ihrer Gemeinde. Ein Höhepunkt: die Fahrt zur Seligsprechung von Edith Stein in Rom. Sie sang mit im Kirchenchor, ihren 18. Geburtstag feierte A. im Pfarrkeller.
Über religiöse Themen wurde in ihrem Elternhaus nicht viel gesprochen. Der Glaube wurde aber gelebt mit Gottesdienstbesuch, Tischgebet, Abendgebet, Rosenkranz. Ihre Mutter hatte die Vorbereitung auf den Empfang der Erstkommunion jeweils für die Jahrgänge übernommen, zu denen A. und ihre Geschwister gehörten. Diese Vorbereitung fand im elterlichen Wohnzimmer statt. Mit großem Interesse nahm A. am Religionsunterricht teil, sie beschäftigte sich intensiv mit der Bibel, suchte Antworten auf die Fragen, zu denen es in ihrem Elternhaus wenig kritisches Gespräch und reflektierende Auseinandersetzung gab.
Schlechte Beicht-Erfahrungen
Keine gute Erfahrung war für Frau A. die Beichte: "Vor der Beichte hatte ich Angst. Ich wusste nicht, was ich dem Pfarrer erzählen sollte - und schämte mich auch vor ihm. Ich sollte ja was erzählen, was ich nicht gut gemacht hatte. Mit meiner Mutter hatte ich überlegt, was ich sagen könnte." Als sehr beschämend habe sie auch die äußere Situation erlebt: "Der Pfarrer saß auf einem Stuhl in der Sakristei, ich musste mich vor ihn auf eine Kniebank knien. Dann hatte ich in der Aufregung vergessen, was ich beten sollte, woraufhin er mich missbilligend anschaute, und die Zahl der Vaterunser, die ich als Buße beten sollte, noch erhöhte."
Dieses Erleben machte A auch unsicher im Umgang mit dem Pfarrer außerhalb des Beichtstuhls. "Ich hatte immer das Gefühl, versagt zu haben und wusste nicht, wie er mich fand. Als Kind, damals neun oder zehn Jahre alt, fühlte ich mich ihm gegenüber wehrlos und ausgeliefert. Ich hätte mir gewünscht, dass ich ihm auch gegenüber hätte sitzen können, dass er mich angelächelt und mir so sein Wohlwollen gezeigt hätte." Als "merkwürdig" empfand Frau A. auch die Tatsache, dass die Jungs in kurzen Hosen in der Kirche erscheinen durften, Mädchen, die nach Meinung des Pfarrers zu kurze Hosen oder Röcke anhatten, mussten aber ein Ministrantengewand überziehen. "In unserem Alter von damals neun Jahren dachte noch niemand von uns an Sex."
Wenig Berührungspunkte
Mit der Institution Kirche hat Frau A. heute nur noch wenige Berührungspunkte. Sehr positiv findet sie die Zusammenarbeit mit dem evangelischen und katholischen Klinikseelsorger. Mit ihnen arbeitet sie gerne zusammen, gerade wenn es darum geht, Kinder, die im Sterben liegen, und deren Familien zu begleiten, oder wenn darüber zu sprechen ist, dass das Kind behindert sein wird.
Kirchen behalten für Frau A. dennoch ihre Bedeutung: "Ich setze mich gerne und oft in Kirchen. Ich mag den Geruch, die Atmosphäre, die Bilder, den Raum. Da kann ich zur Ruhe kommen. So gesehen, ist die Kirche für mich immer noch Heimat und Ort des Innehaltens." Die guten Erlebnisse als Ministrantin, in der Gemeinschaft der Jugendgruppe möchte sie nicht vermissen. "Das bleibt mir als Schatz der Erinnerung."
Nächstenliebe ist wichtig
Gefragt, was ihr von ihren Erfahrungen mit der Kirche auch nach ihrem Austritt noch wertvoll bleibe, gibt Frau A. eine berührende Antwort: "Für meine Eltern als überzeugte Katholiken war das Prinzip der Nächstenliebe wichtig. Das habe ich verinnerlicht, danach handle ich. Ich will den Menschen, denen ich begegne, auf Augenhöhe begegnen."
Und daher habe auch der Kirchenaustritt Sinn gemacht, weil sie in der Kirche diese Nächstenliebe in Bezug auf den Umgang mit gleichgeschlechtlich liebenden Menschen, mit möglichen Positionen von Frauen in der Kirchenlandschaft oder beim Thema Missbrauch mit Abhängigen und Kindern nicht sehe. "Das Prinzip der Nächstenliebe ist ein Geschenk des Glaubens für mein Leben, ein Stück Heimat und Orientierung, das mir bleibt und das ich mir gern erhalte."
Seltsam finde ich, wenn jemand austritt, weil die Kirche den Auftrag des Evangeliums tatsächlich ernst nimmt.
Z.B.: Weil (!) die EKD ein Rettungsschiff ins Mittelmeer schickt.
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Infos zur Situation:
Ev. Kirchentag, 26.06.2019
https://www.kirchentag.de/service/meldungen/dortmund/juni_2019/schicken_wir_ein_schiff_resolution_fuer_aktive_fluechtlingsrettung
Wir schicken ein Schiff, 15.06.2020
https://www.youtube.com/watch?v=8DvDXO2cNzY
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Kapitänin Carola Rackete, Sea Watch 3, 6/2019
STRG_F „Was geschah auf der Sea-Watch 3?“, 23.07.2019
https://www.youtube.com/watch?v=mRvzVpTCuVY
STRG_F „ein Jahr danach“, 25.08.2020
https://www.youtube.com/watch?v=2m1WO1pd0Gs
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Würzburg ist solidarisch mit „Städte Sicherer Häfen“
https://www.mainpost.de/regional/wuerzburg/warum-wuerzburg-ein-sicherer-hafen-sein-will-art-10288139
Hier outet sich sogar jemand in ganz spezieller Not.
Sie/Er sei aus der Kirche ausgetreten, weil diese aktiv ihren Auftrag ernst nimmt:
Helfen, wo der Staat versagt. Menschen retten.
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Ev. Kirchentag, 26.06.2019
https://www.kirchentag.de/service/meldungen/dortmund/juni_2019/schicken_wir_ein_schiff_resolution_fuer_aktive_fluechtlingsrettung
„Wir schicken ein Schiff“ 15.06.2019
https://www.youtube.com/watch?v=8DvDXO2cNzY
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Kapitänin Carola Rackete, Sea Watch 3, Juni 2019
STRG_F „Was geschah auf der Sea-Watch 3?“, 23.07.2019
https://www.youtube.com/watch?v=mRvzVpTCuVY
STRG_F „ein Jahr danach“, 25.08.2020
https://www.youtube.com/watch?v=2m1WO1pd0Gs
NDR „SeaWatch3“ english subtitles, 08.10.2019
https://www.youtube.com/watch?v=spvaLW_MOek
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Wer beim Helfen helfen will:
https://www.kirchentag.de/mitwirken/unterstuetzen/mit_spenden
https://sea-watch.org/mission/sea-watch-3/
kein Wunder dass die Leute aus der Kirche austreten wenn sie sich zunehmend fragen (müssen) was diese "Übung" eigentlich soll. Ursprünglich war die christliche Gemeinde mal eine freiwillige Solidargemeinschaft aus Unterprivilegierten und Verfolgten, wo diese durchatmen und entspannen konnten (apropos, woher kommen eigentlich Gospels & Co.?). Heutzutage kommt es einem gelegentlich so vor, als sorge die (Amts-)Kirche (insbesondere die katholische) selber für Unterprivilegierung und Unterdrückung der Durchschnittsgemeindemitglieder. Dazu kommt mMn noch ein Hang der Leute "denen es zu gut geht" zur Individualisierung (=> Problem auch für die evangelische Kirche: "brauch ich nich, warum auch?").
Schlechte Voraussetzungen also.
Kann "Kirche" was dagegen tun?
Schwierig. Zeiten, wo die Menschen Geborgenheit suchen, wären wohl "geeignet". Vielleicht hilft es, für die Menschen dazusein, die Nähe brauchen, anstatt sie herumzukommandieren oder aber mit Wischiwaschi abzuspeisen?
Der Zölibat wird in der Bibel nicht erwähnt, also kann er auch nicht gegen die Bibel sein.
Das haben WIR aus dem katholischen Umfeld doch alle von Kindesbeinen an verinnerlicht.
Solche Menschen kann man getrost als ungläubige außer Acht lassen, dass sie mit ihrem Schicksal nach eigenem Gutdünken zurecht kommen sollen.
Und trotzdem gilt Barmherzigkeit auch für Sie !
Sogar menschliche Solidarität kennt Grenzen.