
Isolde Miller dachte schon daran, aufzugeben. "Es war so frustrierend. Jeder sagte, wir haben keine Kapazitäten frei." Erst nach unzähligen Telefonaten und einem Bericht dieser Redaktion über ihre prekäre Situation fand die 66-Jährige in Schweinfurt dann doch noch Hilfe für ihren pflegebedürftigen Ehemann. Seit Anfang des Jahres kommt eine Pflegekraft ins Haus.
Die ambulanten Pflegedienste, die eigentlich eine zentrale Rolle bei der Versorgung von Pflegebedürftigen zuhause spielen, können die Nachfrage nicht mehr abdecken. Immer häufiger werden Kunden aus Personalmangel abgewiesen. "Auch wir müssen Anfragen abweisen", bestätigt Carsten Bräumer, Vorstand des Diakonischen Werkes Schweinfurt und Sprecher der Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege in Schweinfurt, in der die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege zusammenarbeiten. Und er weiß, dass diese Situation auch viele Pflegekräfte frustriert.
Bundesweit gibt es 36.000 unbesetzte Stellen in der Kranken- und Altenpflege
Die Pflege hat seit langem mit sehr starkem Fachkräftemangel zu kämpfen. Laut Bundesagentur für Arbeit können bundesweit über 35.000 offene Stellen rein rechnerisch nicht mit passend qualifizierten Fachkräften besetzt werden. Zugleich werden es immer mehr Pflegebedürftige wegen des demografischen Wandels.
Ende 2021 waren in Deutschland nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 4,9 Millionen Menschen pflegebedürftig im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes (SGB XI). Bei einer prognostizierten weiteren Zunahme um fünf Prozent kann man von über 5,1 Millionen Pflegebedürftigen ausgehen, deren Versorgung das deutsche Betreuungs- und Pflegesystem in diesem Jahr gewährleisten muss.
Es fehlt an Pflegekräften – aber nicht nur bei den ambulanten Diensten, sondern auch in den stationären Einrichtungen. Viele Häuser müssen ihre Belegung zurückschrauben, obwohl die Nachfrage hoch ist wie nie. Es trifft die Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege genauso wie die der Privaten. Im Benevit-Seniorenheim in Gochsheim konnten Ende vergangenen Jahres fünf Pflegeplätze nicht vergeben werden – wegen Personalmangel. Wer pflegebedürftig ist und keine Angehörigen hat, die sie oder ihn versorgen, steht deshalb oft vor großen organisatorischen und finanziellen Herausforderungen.
Wie Anja Lehmeyer ein Regionales Netzwerk der Pflege schaffen will
Die Lösung dieses Problems will Anja Lehmeyer angehen. Seit Mitte 2019 ist sie am Landratsamt Schweinfurt als Koordinatorin für Stadt und Landkreis mit dem Aufbau und der Vernetzung von medizinischer Versorgung und Gesundheitsvorsorge zur sogenannten Gesundheitsregion Plus beauftragt. Im Oktober vergangenen Jahres hatte sie zu einem ersten runden Tisch zum Thema Pflege alle Anbieter von pflegerischen Leistungen in Schweinfurt eingeladen. Von den ambulanten Sozialdiensten bis hin zur Politik war alles vertreten.

Lehmeyers Ziel ist es, ein regionales Netzwerk der Pflege zu schaffen. Ein wichtiger Baustein dabei ist die Etablierung einer kommunalen Pflegekonferenz, in der Anbieter von pflegerischen Leistungen gemeinsam mit Vertretern von Pflegekassen und Politik über die Probleme vor Ort diskutieren. Die Pflegekonferenz soll gezielt den Fragen nachgehen, wie Menschen möglichst selbstständig in ihrem gewohnten Umfeld altern können und wie die Pflegestrukturen dazu ausgestaltet werden müssen.
"Wir wollen Strukturen schaffen, dass unsere Bürgerinnen und Bürger keine Angst haben müssen, alt zu werden", verdeutlicht Anja Lehmeyer. Ein Konzept, wie das geht, gebe es nicht. "Aber wir können kleine Lösungen finden, um Lücken zu schließen."
Die erste Pflegekonferenz wird es im Mai geben. Sie soll künftig einmal jährlich stattfinden. Das Projekt wird unterstützt vom Freistaat Bayern. Der Landesgesetzgeber bietet damit Landkreisen und kreisfreien Städten eine Plattform, um als regionale Instanzen über Fragen der vor Ort notwendigen Pflegestrukturen zu beraten.
Gute Zusammenarbeit mit den Pflegeschulen in der Region Main-Rhön
"Das ist ein erster großer Schritt", freut sich Anja Lehmeyer. Viele kleine Schritte seien bereits erfolgt. Sie verweist auf die Initiativen zur pflegerischen Nachwuchsgewinnung an den Schulen, auf die Zusammenarbeit mit den fünf Pflegeschulen in der Region Main-Rhön, auf die Etablierung der Fachstelle für pflegende Angehörige, auf den Pflegestützpunkt und viele andere Beratungs- und Hilfsangebote für Pflegebedürftige. Allerdings, das räumt sie offen ein: "Wenn Pflegekräfte fehlen und viele Menschen älter werden, dann ist die Waage aus dem Gleichgewicht."

Das eigentliche Problem in der Personalnot sieht Diakonie-Vorstand Bräumer darin, dass der Pflegeberuf viele Jahre in der öffentlichen Wahrnehmung in ein Licht gerückt worden sei, wo er nicht hingehöre. Der Pflege sei kein hoher Wert beigemessen worden. "Das wird der Wirklichkeit nicht gerecht." Die Pflegekräfte übten hochqualifizierte Tätigkeiten aus, die hohes empathisches und intellektuelles Niveau erforderten.
Was vielfach unbekannt ist: Die Pflege gehört laut Bräumer zu den bestbezahlten Ausbildungsberufen. So bekommt ein Azubi im ersten Ausbildungsjahr zwischen 1100 und 1400 Euro Bruttogehalt im Monat. Nach der Ausbildung liegt der Verdienst je nach Alter und Tarifvertrag zwischen 2900 und 3800 Euro. Auch die Aufstiegs- und Entwicklungschancen seien gut. Manche Arbeitgeber böten zudem attraktive Zusatzleistungen. "Und es ist einer der krisensichersten Berufe", verweist Anja Lehmeyer auf das langfristig gesicherte Arbeitsfeld.
Mehr Nachwuchs und Pflegekräfte aus dem Ausland reichen nicht, um das Problem zu lösen
Die Nachwuchsgewinnung ist aber nur eine Säule, um die Pflege zu sichern. Eine Lösung für die aktuellen Probleme indes ist sie nicht. Auch ausländische Pflegekräfte würden nicht in dem Maße bereitstehen, um das Gleichgewicht zwischen Pflegebedürftigen und Pflegekräften herstellen zu können, meint Bräumer. Sie seien allenfalls eine Unterstützung. "Wir müssen anfangen, neue gesellschaftliche Modelle zu denken." Einen Lösungsansatz sieht er beispielsweise in der Einführung eines sozialen Pflichtjahres. Auch, um den Menschen den Wert einer sozialen Gesellschaft bewusst zu machen.
"Wir müssen an vielen Stellschrauben drehen, um die Lücken schließen zu können", meint Anja Lehmeyer. Vor allem sei es erforderlich, dass "alle an einem Strang ziehen", ohne Konkurrenzdenken. Nur durch gemeinschaftliche Initiativen und sozialpolitische Aktivitäten werde die Sicherung und Weiterentwicklung der sozialen Arbeit gelingen. "Wir haben keine Alternative, wir müssen das packen", sagt Diakonie-Vorstand Bräumer, "nur so können wir den Kollaps abwenden."