Weben ist für mich wie ein Tanz mit immer den gleichen Schritten in immer neuen Figuren." Wenn Nicole von Lindeiner an ihrem "Oldie" sitzt, vergisst sie die Zeit. Links, rechts, links, rechts – immer im gleichen Rhythmus wirft sie das Schiffchen hin und her. Und wie beim Orgelspielen springen dabei ihre Füße über die Tritte und heben die Schäfte. Jeder Tritt öffnet einen Raum zwischen den Kettfäden, durch die das Schiffchen mit dem Schussfaden tanzt. "Es ist wie eine Meditation, es läuft von ganz alleine." Und Schuss um Schuss wächst dabei das Gewebe.
"Das Tuchwerk" am Kerlachring 53 in Stadtlauringen ist eine außergewöhnliche Weberei. Die Webstühle sind im ganzen Haus verteilt. Insgesamt zehn Stück, vom Keller bis zum Dachboden. Einer davon sogar mit 32 Schäften. Alle haben einen Namen. "Marja" und "David" stehen im Esszimmer, "Jane" nimmt mit zwei Faltwebstühlen das ehemalige Kinderzimmer in Beschlag, und "Oldie", mit über 100 Jahren der Älteste, hat sich im Gästezimmer breit gemacht, weil er wie alle alten Bauernwebstühle ein bisschen sperrig ist. "Oldie" ist der Lieblingswebstuhl von Nicole von Lindeiner. "Er knarzt freundlich bei jedem Anschlag und man vergisst die Zeit über dem Weben." Steht man nach Stunden auf, habe man nicht einmal Rückenschmerzen, weil die alte Sitzbank mitruckelt. "Bandscheibenschutz von vor 150 Jahren", meint sie lachend.
Mit einem bei ebay ersteigerten Webstuhl fing es vor 20 Jahren an
Dr. Nicole von Lindeiner ist im Hauptberuf Ärztin, sie praktiziert als Internistin in Schweinfurt. In Stadtlauringen kennt man sie aber hauptsächlich als "die Weberin". Vor 20 Jahren fing es an. "Mein Mann schenkte mir einen bei ebay ersteigerten Webstuhl", erzählt sie beim Besuch in ihrer Weberei. Das Interesse an Handarbeit hatte sie von Kindsbeinen an. Die Mutter war Schneidermeisterin, "ich bin mit Fäden aufgewachsen". Und so steht auch das Haus am Kerlachring 53 voller Fäden, in allen Farben und Qualitäten: Leinen, Baumwolle, Wolle, Hanf, Seide. Alle Webgarne sind aus Naturfasern. "Wir achten auf die ökologische Herkunft der Garne und Einfärbung nach Ökotex-Standard", betont die Weberin.
Echte Raritäten sind darunter. Zum Beispiel mercerisierte Baumwolle, die Nicole von Lindeiner aus DDR-Beständen ergattert hat. Aus ihrer Schatzkammer holt sie ein Merino-Garn heraus, gut geschützt hinter Glas und mit Mottenpapier eingewickelt. In einem anderen Schrank lagert handgesponnenes Leinen, 13 Kilogramm auf Docke zusammengedreht, "heutzutage unbezahlbar".
Nicole von Lindeiner webt am liebsten Leinen. "Weil es ein bisschen störrisch und bockig sein kann." Und weil es unendlich haltbar ist und wie aus Stroh gesponnenes Gold glänzt. "Leinenfäden sind mein Rumpelstilzchen", schwärmt die Weberin. "Wenn man sie liebevoll und geduldig behandelt, kommt etwas Wundervolles dabei heraus! Ähnlich wie unsere Kinder in der Pubertät." Die Weberin ist Mutter zweier erwachsener Töchter. Der einen hat sie zum Studium aus ihren Kinder-T-Shirts und Schlafanzügen einen Teppich gewebt, als Erinnerung an Zuhause.
Jedes Produkt ist ein individuelles Einzelstück
Das Tuchwerk fertigt schöne Dinge, die man anfassen und benutzen kann: Geschirrtücher, Badetücher, Schals, Decken, Kissen. Jedes Produkt ein individuelles Einzelstück. "Ich liebe Geschirrtücher, die webe ich am liebsten", sagt Nicole von Lindeiner. Sie bringen Farbe in die Küche und sind wunderbare Geschenke zum Mitbringen. Gerade arbeitet sie an "Juhannusta". Jedes Muster hat einen Namen, und jedes Gewebe eine Geschichte. Juhannusta ist finnisch und bedeutet "Mittsommer". Eine Freundin hatte von dem Tag der ewigen Sonne in einem Land mit tiefgrünen Wäldern, blauen Seen und roten Holzhäusern geschwärmt. Die Weberin hat diesen Mittsommertag mit einem grün-blau-roten Muster der berühmten finnischen Handarbeitslehrerin und Weberin Ester Pepheentupa in ihrem Webstuhl gebunden.
Das Weben am Webstuhl ist nur einer von vielen Schritten, die getan werden müssen, bevor man ein schönes Geschirrtuch in der Hand halten oder sich einen Schal um den Hals legen kann. Die eigentliche Arbeit beginnt davor, denn der Webstuhl muss erst eingerichtet werden. Es dauert viele Stunden, bis alle Fäden aufgespannt und eingezogen sind. Auf dem "Oldie" sind es knapp 500 Fäden. "Das ist nicht viel", meint Nicole von Lindeiner. Wenn sie einen Seidenschal webt, sind es 1400 Fäden.
Das Aufspannen der Fäden beginnt mit dem Schären der Kette. Dabei wird eine Schar gleich langer, parallel nebeneinander aufgewickelter Kettfadenbänder gebündelt und mit Spannung auf den Kettbaum aufgebracht. Danach wird jeder Faden in die Litzen der Schäfte gestochen und dabei das Muster festgelegt. "Dazu nehmen ich eine Häkelnadel", erklärt die Weberin. Durch Anbinden der Fäden wird dann die Spannung aufgebaut. Wenn dies alles erledigt ist, werden die Tritte hochgebunden und das Fach gerichtet.
So viele Fäden, so viele Möglichkeiten und so viel Wissen, das beherrscht werden muss. "Weben ist nicht nur Design", sagt Nicole von Lindeiner, "Weben ist ein Handwerk, das man lernen muss." Die Stadtlauringerin hat es bei einer Webmeisterin in Italien gelernt. Über mehrere Jahre besuchte sie berufsbegleitend Lehrgänge dort, lernte Materialkunde, Bindungslehre, Gewebeanalyse, Gewebegestaltung und immer komplexere Strukturen. Für die Weberin liegt die Schönheit aber in der Schlichtheit: im immer gleichen Rhythmus einer einfachen Leinwand- oder Körperbindung, in ausdrucksstarken Farb- und Materialkombinationen und vor allem in Geweben, die im Alltag Freude machen, die nützlich sind, "die ich in die Hand nehmen kann und mit denen ich wirklich auf Tuchfühlung gehen kann".
Früher stand in jedem Bauernhof ein Webstuhl, weiß Nicole von Lindeiner. Im Winter habe man damit den Tuchvorrat fürs nächste Jahr gewebt. Gewebt wurde mit allem, was da war. Alte Kleidung wurde in Streifen geschnitten und zu Teppichen verwebt. In Kriegszeiten seien Brennnessel- und Ginsterfasern zum Weben versponnen worden. Mit Goldfäden oder Seide zu weben, sei nur wenigen Webern in reichen Städten vorbehalten gewesen.
Doch egal welches Material: "Immer entstanden wundervolle Gewebe, die nach Jahrzehnten der Nutzung noch immer Geschichten erzählen." Zum Beispiel ein altes Leinentuch mit kleinen Fehlern, weil ein Mustersatz nicht zu Ende gewebt wurde oder das unterschiedlich dick gesponnene Leinen ungewollte Querstreifen ergab. "Jeder Weber hat seine eigene Web-Schrift, die ähnlich wie die Noten in der Musik überall von einem anderen Weber gelesen werden können", sagt Nicole von Lindeiner.
Den Beruf des Webers gibt es heute nicht mehr
Weben ist eines der ältesten Gewerke der Menschheit, doch den Beruf des Webers gibt es heute nicht mehr. Er ist 2011 im Textilgestalter aufgegangen. "Leider wird dadurch auch sehr viel Wissen verloren gehen", bedauert die Weberin. Deshalb will Nicole von Lindeiner ihr Wissen und Können weitergeben. Seit ein paar Jahren veranstaltet sie Webkurse in ihrem Haus.
"Um die Grundbegriffe zu lernen, braucht man keine lange Ausbildung, da reichen Präzision und Geduld." Unabhängig von den Kursen gibt es im Haus der Weberin auch immer den einen oder anderen Webstuhl mit einer Übungs-Kette oder einer einfachen Geschirrtuch-Kette zum Ausprobieren. "Wir sind ein offenes Haus", lädt sie Interessierte ein, einfach mal vorbei zu kommen, sich an den Webstuhl zu setzen und das Weben auszuprobieren.
Dazu bieten die Europäischen Tage des Kunsthandwerks vom 1. bis 3. April eine gute Gelegenheit. Kreative in ganz Deutschland öffnen an diesen Aktionstagen die Türen ihrer Werkstätten, Ateliers, Galerien, Museen oder Ausbildungsstätten für die interessierte Öffentlichkeit. Die Besucherinnen und Besucher können auf Entdeckungstour gehen und Kreativschaffenden über die Schulter blicken. "Wir freuen uns über jeden, der gerne mit Fäden arbeitet", sagt Nicole von Lindeiner, "denn Weben verbindet nicht nur die Fäden, es verbindet auch Menschen."