
Ingeborg Pusch wartet schon am Bahnhof. Sie ist immer ein bisschen aufgeregt, wenn es mit dem Zug von Haßfurt nach Würzburg geht. Diesmal begleitet Rudolf Steiche von der Bahnhofsmissin in Schweinfurt die 67-Jährige. Alleine würde sie sich die Reise nicht zutrauen – sie ist blind.
Alle drei bis vier Wochen besucht Ingeborg Pusch ihre 83-jährige Schwester in Ochsenfurt. Ihre anderen sechs Geschwister sind schon gestorben. Der Ausflug läuft immer gleich ab: Mit dem Taxi lässt sich die 67-Jährige von ihrer Wohnung in Haßfurt zum Bahnhof bringen. Mit dem Zug um 10.33 Uhr geht es dann nach Würzburg. Am Hauptbahnhof muss sie umsteigen – entweder in die Regionalbahn oder aber in den Bus nach Ochsenfurt. Meist bleibt sie ein paar Tage bei der Schwester, dann geht es auf dem gleichen Weg retour.
Ingeborg Pusch: „Wir sind ein gutes Team“
Mit Rudolf Steiche an ihrer Seite fühlt sich Ingeborg Pusch sicher. „Wir sind ein gutes Team.“ Der ehrenamtliche Begleiter, der selbst schon im Rentenalter und topfit ist, nimmt die zierliche Frau an der Hand, führt sie zur Treppe an der Unterführung und bringt sie sicher zum Gleis. In seiner Begleitung benutzt Ingeborg Pusch nicht einmal ihren Blindenstock, den sie immer dabei hat. „Ich bin total froh, dass es diese Reisebegleitung gibt.“
Seit einigen Jahren bietet die Bahnhofsmission in Schweinfurt diesen kostenlosen Begleitservice für Menschen an, die durch ein Handicap eingeschränkt sind oder sich alleine eine Bahnreise nicht zutrauen. Fünf Ehrenamtliche sind aktuell im Einsatz, es werden aber weitere Mitarbeiter gesucht. Denn der Begleitservice ist gefragt. Nicht nur ältere Menschen, auch viele Kinder werden von der Bahnhofsmission in den Nahverkehrszügen im Umkreis von 100 Kilometern betreut. Es sind Kinder, die im Heim leben und am Wochenende nach Hause fahren, oder Kinder, die mal Oma und Opa oder Tante und Onkel besuchen wollen, oder Kinder, die abwechselnd bei Mutter und Vater aufwachsen und pendeln müssen. „Zu Ferienbeginn haben wir da immer recht viel zu tun“, sagt Rudolf Steiche.
Seit drei Jahren Reisebegleiter
Der ehemalige Bankkaufmann ist seit drei Jahren ehrenamtlicher Reisebegleiter der Bahnhofsmission. Ingeborg Pusch hat er schon oft begleitet, die beiden sind ein gut eingespieltes Team. Würde Rudolf Steiche nicht die blaue Jacke mit dem Wappen der Bahnhofsmission tragen, man könnte glauben, hier reisen zwei Altbekannte. „Jetzt sind wir in Schweinfurt“, sagt Rudolf Steiche, als der Zug anhält. Ingeborg Pusch weiß, dass es jetzt 10.44 Uhr ist. Sie kennt den Fahrplan in- und auswendig. „Heute sind nicht viele Leute im Zug“, stellt sie fest. Das stimmt. Nur eine junge Frau und ein Mann sitzen noch im Abteil.
Wenn man die Augen als Sinnesorgan nicht zur Verfügung hat, nimmt man die Umwelt mit den Ohren wahr. Ingeborg Pusch hat ein sensibles Gehör. Auch ihr Gegenüber scannt sie mit den Ohren. Der Klang der Stimme, die Art des Sprechens verraten ihr das Aussehen. „Herr Steiche ist groß und sieht nicht schlecht aus“, sagt sie und liegt damit richtig. „Und Sie sind klein und blond.“ Auch das stimmt.
Als Kind konnte sie leuchtende Farben sehen
Ingeborg Pusch kam blind zur Welt. Mit drei Jahren wurde sie am grünen und am grauen Star operiert. „Danach konnte ich Umrisse und leuchtende Farben sehen“, erzählt sie mit einem Leuchten im Gesicht. Im Lauf der Jahre ist ihr Augenlicht aber wieder erloschen. „Das war schlimm.“ Doch Ingeborg Pusch hat sich an die Dunkelheit gewöhnt. Als Kind besuchte sie eine Blindenschule, danach machte sie eine Ausbildung zur Telefonistin und Stenotypistin, und bis zu ihrer Rente arbeitete sie bei einer Haßfurter Firma im Büro. Ihren Alltag bewältigt sie ganz alleine. Früher sei sie sogar mit ihrer ebenfalls blinden Freundin mit dem Zug bis nach Augsburg gefahren. Aber das schaffe sie heute nicht mehr.
„Jetzt sind wir bei Essleben“, bemerkt Rudolf Steiche und die 67-Jährige antwortet: „Da sind viele Windräder.“ Der Reisebegleiter beschreibt ihr die Landschaft: „Heute ist es ganz klar, man kann bis zum Kreuzberg gucken.“ Erinnerungen werden wach an frühere Ausflüge mit der Schwester auf die Wasserkuppe. „Das war schön.“ Sogar in Amerika war sie einmal, hat ihre Nichte in Kansas besucht. Und mit dem Blindenbund machte sie vor Jahren eine Reise nach Lourdes.
Kaffeetrinken in Würzburg
Für den Ausflug zur Schwester hat sich Ingeborg Pusch extra beim Frisör hübsch machen lassen. Die blonden Strähnchen sind ganz frisch. Eigentlich wollte sie die Fahrt canceln, weil es ihrer Schwester heute nicht so gut geht. Nachdem der Begleitservice bei der Bahnhofsmission aber schon bestellt war, nutzt Ingeborg Pusch die Gelegenheit zum Kaffeetrinken in Würzburg. Am Hauptbahnhof wird deshalb nicht umgestiegen, sondern ausgestiegen. Hier geht es hektisch zu, die 67-Jährige ist froh, Rudolf Steiche an ihrer Seite zu haben. Er führt sie aus dem Zug, die Treppe hinunter und hinaus aus dem Bahnhofsgebäude ins Café.
„Hier käme ich nicht alleine zurecht“, gibt Ingeborg Pusch zu. Und auf Hilfe vom Schaffner könne man nicht immer hoffen. Einmal, als es die Helfer von der Bahnhofsmission noch nicht gab, habe sie einen Zugbegleiter um Hilfe gebeten und stattdessen einen „Anschiss“ bekommen, weil sie als Blinde allein unterwegs war. Ein Mitreisender habe sie dann aus dem Zug geführt. Ein andermal dagegen sei ein Schaffner ganz zuvorkommend gewesen und habe ihr sogar einen Platz in der ersten Klasse angeboten.
Auch Rudolf Steiche kann viele Erlebnisse erzählen. Er hat einmal spontan eine Flüchtlingsfrau nach Bamberg begleitet. Sie stand mit ihren Koffern hilflos am Bahnsteig, war völlig überfordert. „Da habe ich sie in den Zug gesetzt und bin einfach mitgefahren.“
Rudolf Steiche: „Ein spannendes Ehrenamt“
Nicht an allen Bahnhöfen bietet die Bahnhofsmission Reisebegleitungen an. In Schweinfurt wurde der Service 2012 initiiert. Rudolf Steiche ist seit drei Jahren dabei. Ihm macht die Tätigkeit Spaß. „Es ist ein spannendes Ehrenamt.“ Am liebsten begleitet er Erwachsene, „weil man sich dann unterhalten kann“. Kinder würden während der Zugfahrt meist nur mit dem Smartphone herumspielen. „Wir unterhalten uns gerne“, bestätigt Ingeborg Pusch. So erfährt der Reisebegleiter, dass sie Oldies hört und die Krimis von Charlotte Link mag. Auch der Fernseher läuft jeden Abend im Wohnzimmer. „Am liebsten höre ich mir Heimatfilme an.“
Rudolf Steiche schaut auf die Uhr: „Jetzt wird's Zeit, der Zug fährt um 12.35 Uhr zurück.“ Um die Mittagszeit geht es ganz schön hektisch in der Würzburger Bahnhofshalle zu. Ingeborg Pusch ist gelassen, sie hat ja einen aufmerksamen Begleiter neben sich. Im Zug zückt sie gleich ihr Handy und bestellt sich ein Taxi für 13.15 Uhr an den Haßfurter Bahnhof. Mit fünf Minuten Verspätung kommt sie dort an. Der Taxifahrer steht schon bereit und nimmt „Frau Pusch“ in Empfang. Rudolf Steiche verabschiedet sich „bis zum nächsten Mal“ – in drei oder vier Wochen.
Hinweis: Die Bahnhofsmission Schweinfurt sucht Freiwillige für die ehrenamtliche Reisebegleitung. Wer Interesse an dieser nicht alltäglichen Aufgabe hat, kann sich telefonisch unter Tel. (0 97 21) 85 95-0 oder per E-Mail unter bm.sw@gmx.de melden.





