Seit sechs Jahren wühlt sich Dr. Elmar Geus durch die Unterlagen der Gemeinde Gochsheim. Eine "sehr mühsame Erbsenzählerei" sei das teilweise gewesen erzählt er. Aber es habe sich gelohnt die Gemeinde könne stolz darauf sein, ein so umfassendes und jetzt auch wohl sortiertes Archiv zu haben.
Ins Torhaus mussten Eisenträger eingezogen werden
2009 übernahm Geus das Archiv vom Ehrenbürger der Gemeinde, dem Heimatforscher Walfried Hein, der es aus gesundheitlichen Gründen aufgab. Damals lagerten die Unterlagen noch im alten Rathaus. Kaum hatte er sich einen Überblick verschafft, hieß es auch schon Kisten schleppen. Die Unterlagen mussten aus dem alten Rathaus raus, weil dieses saniert werden sollte. Der Umzug ins Torhaus, hier hatte früher der Frisör mit seiner Familie gewohnt. Noch vor dem Umzug wurde die Statik des alten Torhauses berechnet und an einigen Stellen sogar Eisenträger eingezogen.
Insgesamt dauerte es fast ein Jahr bis der Archivalien in ihr neues Zuhause einziehen konnten. Dieses erwies sich allerdings als Glückstreffen, weiß Geus heute. Zwar sind die steilen Treppen und die kleinen Räume eine Herausforderung, aber die dicken Mauern sind ideal um die entsprechende Luftfeuchtigkeit und Temperatur zu halten. "Selbst letztes Jahr in diesem heißen Sommer hatte ich hier nie über 25 Grad", erzählt Geus.
Seine größte Herausforderung war es das bestehende Archiv in eine neue Ablage zu transferieren, die dem dem entspricht. "Es war viel Denkarbeit nötig", sagt der promovierte Historiker, der all diese Arbeiten ehrenamtlich erledigt. Dabei betont Geus, dass er kein Heimatforscher ist, er sortierte und verwaltet nur das Gedächtnis der Gemeinde. Dazu gehören unter anderem die Geburts-, Heirats- und Sterbeurkunden, die Rechnungsbücher, die Feuerwehrordnung aber auch Wahlergebnisse und Entnazifizierungsakten.
Älteste Urkunde ist aus dem Jahr 1568
Und Geus ist auf so manches Interessante gestoßen als er die 12 515 Einzelarchivalien und 206 Archivordner einsortierte und via Exel auch elektronisch sicherte. Die Gemeinde hatte sich gegen ein teures digitales Archivsystem entschieden, das sei auch nicht nötig, meint Geus, denn aus Exel ließen sich die Unterlagen in jedes Archivsystem exportieren. Die älteste Urkunde der Gemeinde der Wappenbrief aus dem Jahr 1568, allerdings liegt aus Brandschutzgründen im Tresor des Rathauses.
Als Eierschwer an die Front geschickt wurde
Gleich als erstes stolperte der Archivar über einen Karton mit 30 bis 40 Kinderzeichnungen und Kinderbriefen, dazwischen immer wieder Brösel. Was tun Kinderbriefe in einem Gemeindearchiv, fragte sich Geus und recherierte. Es waren keine Kinder, die diese Briefe schrieben, sondern Gochsheim Frauen, die diese an diese im Zweiten Weltkrieg den Soldaten ihres Heimatortes an der Front schickten. Die Brösel konnte Renate Spiegel erklären. "Das war Eierschwer", erklärte sie, ein lange haltbares Gebäck, das damals viel an die Front geschickt worden sei.
Mahnung über 17 Billionen Reichsmark
Auch was Inflation bedeutet, fand Geus im Archiv. Er entdeckte eine Rechnung für eine Zeitschrift, die im Oktober 1922 fünf Reichsmark im Quartal gekostet hat. Im November 1923 kostete dieselbe Zeitschrift schon 451 Milliarden Reichsmark im Monat und die Gemeinde musste sie eigentlich per Nachnahme bezahlen, weil man ja nicht wusste, wie viel das Geld am kommenden Tag noch wert ist. Trotzdem hat die Gemeinde scheinbar nicht bezahlt, denn wenig später gab es ein Mahnschreiben, in dem bereits 17 Billionen Reichsmark gezahlt werden sollten. Die Gemeinde hatte Glück, inzwischen war die Währungsreform der Weimarer Republik durchgeführt und sie musste nur 1,20 Rentenmark zahlen.
Auch die Wahlergebnisse der ersten demokratischen Wahlen in der neuen Weimarer Republik von 1919 finden sich im Archiv. Gestutzt hat Geus erst einmal, als die Gemeinderatsprotokolle mit dem Januar 1933 plötzlich abrupt endeten. Aber ja mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten endeten ja auch sämtliche föderalen Strukturen der Weimarer Republik. Das erste Gleichschaltungsgesetz vom März löste Landtage, Bürgerschaften, Kreistage und Gemeinderäte auf, also gab es auch keine Protokolle mehr.
Nach dem Zweiten Weltkrieg erinnerten sich die Gochsheimer wohl wieder an ihren Widerspruchsgeist, jedenfalls gibt es einen Beschwerdebrief an die Amerikaner, in dem Holz- und Nahrungslieferungen angemahnt worden, mit Erfolg, die Lieferungen kamen, wie die Unterlagen belegen. Das Gedächtnis der Gemeinde verrät doch auch einiges über deren Geschichte.
Was Geus jetzt besonders am Herzen liegt ist, dass dieses Archiv weitergeführt wird. Sein Aufruf geht deshalb an alle Vereine und Gruppen, regelmäßig ihre Berichte und Bilder im Archiv abzugeben, Manfred Deppert machte damit gleich den Anfang. Er brachte zur Einweihung des Archivs die Unterlagen des "Netzwerks", eines inzwischen aufgelösten Vereins, der sich einst um die Russlanddeutschen kümmerte, die in Gochsheim landeten. Bürgermeisterin Helga Fleischer dankte Geus für seine hervorragende Arbeit und hofft, dass er der Gemeinde noch lange erhalten bleibt.