Im Jahr 1972 liegt das Ende des Zweiten Weltkriegs gerade mal 27 Jahre zurück. Die Wunden sind längst nicht verheilt. Dreimal in den vergangenen 100 Jahren führten Deutschland und Frankreich Krieg gegeneinander. Die beiden Länder gelten in den Geschichtsbüchern als Erzfeinde. Dennoch wagen – aus heutiger Sicht erstaunlich früh nach dem letzten großen Krieg – die Städte Gerolzhofen und Mamers die Partnerschaft. Sie wird am 2. Juli 1972 besiegelt. Auf unterer Ebene setzt sich fort, was die Staatsoberhäupter Charles de Gaulle und Konrad Adenauer begonnen haben.
Die Beziehung zu Mamers im französischen Departement Sarthe ist die älteste Städtepartnerschaft der Gerolzhöfer. 50 Jahre lang hat sie gehalten und sie ist immer noch mit Leben erfüllt.
Visionäre Gedanken, die der damalige Mamerser Bürgermeister Henri Courant in der Festschrift zur Besiegelung der Städtepartnerschaft zu Papier brachte, sind heute längst Wirklichkeit. Courants Perspektive: "Ohne die Vergangenheit zu vergessen die Zukunft aufbauen, damit unsere Kinder den Begriff Grenze nicht mehr kennen." So ist es gekommen.
Vorgänge von historischer Bedeutung
Eine weitere Passage aus Courants poetisch-prophetischem Beitrag zeugt von der historischen Bedeutung der Vorgänge im Jahr 1972: "Ich verspüre bewegt die Wichtigkeit, die der Partnerschaftsfeier zukommt, diesem Freundschaftsband, wie eine Brücke über den Strom geworfen, damit sich zwei Städte vereinigen, die sich gestern noch fremd waren, und damit freundschaftliche und kulturelle Beziehungen hergestellt werden, die unerlässlich sind für das Zusammenleben der Völker."
650 Franzosen kamen am Nachmittag des Freitags, 30. Juni 1972, mit zehn Omnibussen und rund 80 Autos in Gerolzhofen an, um mit den neuen Freunden die Partnerschaft zu besiegeln. Das war jeder zehnte Mamerser. Für die Gerolzhöfer bedeutet es eine logistische Meisterleistung, Quartiere für so viele Gäste aufzutreiben.
Dieser 30. Juni war in zweifacher Hinsicht ein historischer Tag, denn es war der letzte Tag, an dem der Landkreises Gerolzhofen bestand. Ab 1. Juli 1972 war Gerolzhofen keine Kreisstadt mehr.
Tänzerinnen erobern die Herzen der Gerolzhöfer
Die Majorettes, eine Tanzgruppe mit etwa 60 Mädchen aus Mamers, tanzten sich beim Einzug der Franzosen sofort in die Herzen Hunderter Gerolzhöfer, die den Marktplatz säumten. Diese Art zu tanzen wurde später in Gerolzhofen imitiert. Es gibt sie bis heute unter dem Namen Schautanzgruppe. Vor allem Veronique Gallet, die nach Gerolzhofen heiratete, ist hier zu nennen.
Eine solche Partnerschaft war etwas Neues, sie begeisterte in den Anfangsjahren viele Bevölkerungsschichten und alle Altersgruppen. Die neue Freundschaft war 1972 im gesamten Stadtbild sichtbar. Eine Straße, der Mamersweg, wurde nach der Partnerstadt benannt, die Speisekarten in den Gaststätten waren in diesen Tagen zweisprachig. Es gab einen Festzug, wie ihn die Stadt lange nicht gesehen hatte, und eine Modenschau auf dem Marktplatz mit echten französischen Mannequins. Die Geschäfte dekorierten ihre Schaufenster in den Farben der Trikolore. Überall wurden französische Produkte angeboten. Auch das Kulturprogramm war deutsch-französisch auf der ganzen Linie.
Nationalhymnen und Geläut der Kirchenglocken
Höhepunkt dieser Tage: Im Sitzungssaal im Rathaus unterzeichneten die Bürgermeister Henri Courant und Franz Kreppel die Partnerschaftsurkunde. Die Städtebeziehung wurde aktenkundig unter den Klängen der Nationalhymnen beider Länder, dem Glockenläuten der Stadtpfarrkirche und dem Beifall der Festgäste. Den Festgottesdienst feierte der Gerolzhöfer Stadtpfarrer Alfred Rost zusammen mit drei französischen und einem holländischen Geistlichen. Die "Petit Chanteurs" ("Kleine Sänger") und der Gerolzhöfer Kirchenchor bildeten eine homogene Einheit.
Welche Dimension diese Veranstaltung damals hatte, zeigt die Zahl von 211 Helfern, die Bürgermeister Franz Kreppel im Februar 1973 ehrte. An der Spitze standen Leute aus dem Freundeskreis Gerolzhofen-Mamers, der schon vor der Partnerschaft gegründet worden war und der die Partnerschaft überhaupt in die Wege leitete. Erster Präsident war der Zahnarzt Dr. Elmar Weissenseel.
Gegenbesuch in Mamers ein Jahr später
Zum Gegenbesuch starteten im Juli 1973 rund 500 Gerolzhöfer nach Mamers. Auch dort gibt es seitdem eine Rue (Straße) Gerolzhofen. 20 Auserwählte aus der Gerolzhöfer Delegation wurden zu Rittern der Rillettes-Gemeinschaft geschlagen (benannt nach einer Schmalzfleisch-Spezialität der Region). Neben großer Gastfreundschaft erlebten die Gerolzhöfer in Frankreich ein tolles Programm mit Festzug, Ausstellungen, Sportbegegnungen und geselligen Abenden.
Diesmal sagte Gerolzhofens Bürgermeister Franz Kreppel Staatstragendes: "Frankreich und Deutschland müssen in einem freien Europa enger zusammenrücken. Dann werden die Großmächte nicht in der Lage sein, unsere Interessen außer Acht zu lassen. Die Völker verständigen sich bereits. Mögen die Politiker nun erneut versuchen, ein freies Europa zu schaffen. Das ist die Forderung der Stunde." Auch Kreppels Erwartung hat sich erfüllt, wenngleich die Freiheit in Europa ausgerechnet im Jubiläumsjahr der Städtepartnerschaft durch den russischen Angriff auf die Ukraine bedroht ist.
Die Wurzeln der Städtebeziehung reichen bis 1966 zurück. Unter Leitung des Mamerser Pfarrers Louis Blottiere waren in diesem Jahr 50 Jugendliche auf Deutschland-Trip. Vermittelt von der Katholischen Landjugend Würzburg kamen sie unter anderem nach Gerolzhofen und Michelau, wo sie in Familien aufgenommen wurden. Die ersten Kontakte zwischen deutschen und französischen Jugendlichen verliefen schlicht. "Wir spielten zusammen Gitarre, es gab nicht die großen Buffets wie heute", erinnerte sich vor zehn Jahren Martha Sendner aus Frankenwinheim, die inzwischen gestorben ist.
Frankreichfahrt galt als Sensation
Die Franzosen luden zum Gegenbesuch. Zwei bis drei Tage verbrachte die Gruppe aus dem Raum Gerolzhofen mit dem Gerolzhöfer Kaplan Siegmund Simon und Kuratus Helmut Amrhein in Mamers, dann ging es mit den neuen Freunden nach St. Malo und Versailles. Im Jahr 1967 galt eine Frankreichfahrt noch als Sensation, während es heute etwas ganz Normales ist.
Das Jahr 1968 führte die Jugendlichen wieder nach Frankreich, zu einer 4000 Kilometer langen Rundreise. Erster Anlaufpunkt war Mamers. Der Mamerser Alphonse Rocher begleitete die Gruppe, und auf dieser Reise war erstmals von einer Partnerschaft die Rede. Ein Jahr später führte eine Fahrt mit den Wipfelder Musikanten wieder ins Departement Sarthe. Höhepunkt war ein fünfminütiger Auftritt im landesweit ausgestrahlten französischen Mittagsmagazin.
Freundeskreis leistet Pionierarbeit
Als die Gerolzhöfer dann zum 50-jährigen Bestehen des Mamerser Fußballclubs SAM fuhren, war erstmals ein Offizieller der Stadt dabei: Stadtrat Ludwig van Eckert. In diesem Jahr entstand auch der Freundeskreis der Frankreichfahrer. Ab dem Jahr 1971 waren dann erstmals fränkische Kapellen bei dem großen Bauernmarkt "Drei Tage von Mamers", eine Tradition, die sich viele Jahrzehnte hielt. Unermüdlicher Ankurbler dieser ersten Annährungen zwischen jungen Deutschen und Franzosen war auch der Gerolzhöfer Journalist Dietmar Kordowich.
Natürlich haben die jungen Deutschen bei ihren ersten Aufenthalten nicht nur Begeisterung, sondern auch Vorbehalte registriert, vor allem unter älteren Franzosen. Genau dazu sollte die Partnerschaft aber da sein, alte Vorurteile abzubauen. Aus dieser Überzeugung heraus setzten sich auch Ältere für die Partnerschaft ein, auf Gerolzhöfer Seite zum Beispiel der im Jahr 1997 verstorbene Nikolaus Pfister. Er hatte selbst schlimme Kriegserfahrungen hinter sich und wollte, dass so etwas nie wieder passiert.
Der Autor des Textes, Norbert Finster, ist Partnerschaftsbeauftragter des Gerolzhöfer Stadtrats.