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Schweinfurt
30 Jahre Bonnmarschierer: Der Hilferuf aus der Krisenregion Schweinfurt war zu Fuß unterwegs
Vor 30 Jahren starteten 42 IG-Metaller ihren Marsch nach Bonn. Politik und Gesellschaft sollten auf die "Krisenregion Nummer eins" aufmerksam gemacht werden.
Gewerkschafter am Schweinfurter Marktplatz auf dem Weg nach Bonn. Trotz sorgfältiger Recherche konnte der Rechteinhaber nicht ermittelt werden. Rechteinhaber werden gebeten, sich bei der Redaktion zu melden.
Foto: IGM | Gewerkschafter am Schweinfurter Marktplatz auf dem Weg nach Bonn. Trotz sorgfältiger Recherche konnte der Rechteinhaber nicht ermittelt werden. Rechteinhaber werden gebeten, sich bei der Redaktion zu melden.
Karl-Heinz Körblein
Karl-Heinz Körblein
 |  aktualisiert: 08.02.2024 10:22 Uhr

Es war wirklich kein schöner Herbsttag, als sich am 13. Oktober 1993 die Gewerkschafter auf den Weg machten. 42 IG-Metaller starteten um 6.45 Uhr am Marktplatz auf den Weg nach Bonn. Ihr Ziel: die Aufmerksamkeit von Politik und Gesellschaft auf die "Krisenregion Nummer eins", nämlich Schweinfurt, zu lenken und Hilfe einzufordern. Sturm war angekündigt, viele der Marschierer waren ungeübt, Strapazen die Folge: Muskelkater, jede Menge Blasen, jede Menge Arbeit für den begleitenden Arzt.

Aus den Aktivisten sind Freunde geworden, die sich regelmäßig treffen, erinnern. So auch zum 30. Jahrestag des Marsches in einer rappelvoll besetzten Disharmonie, wo das Theaterensemble der Kulturwerkstatt (Nadine Knauff, Felix Förster, Hazem Najjav, Agnes Conrad, Nicolas Lommatzsch) und der Pianist Mad Bob die Ereignisse von 1993 in einer überaus gelungenen szenischen Fassung Revue passieren ließen und einige der Marschierer sich erinnerten.

Gemeinsam erinnerten sich viele der ehemaligen 'Bonnmarschierer' an den Tag vor 30 Jahren. Politik und Gesellschaft sollten auf die 'Krisenregion Nummer Eins' aufmerksam gemacht werden.
Foto: Josef Lamber | Gemeinsam erinnerten sich viele der ehemaligen "Bonnmarschierer" an den Tag vor 30 Jahren. Politik und Gesellschaft sollten auf die "Krisenregion Nummer Eins" aufmerksam gemacht werden.

1993: das Jahr der großen Krise. FAG-Kugelfischer hatte sich mit dem Engagement in Ostdeutschland verhoben, zwei Milliarden Schulden hatten sich angehäuft, das Unternehmen stand vor dem Aus. Auch den anderen Metallbetrieben ging es nicht gut. 12.000 Arbeitsplätze standen im Feuer, Gewerkschafter fürchteten, dass es sogar 20.000 werden könnten.

Mit dem Film des Bayerischen Rundfunks "Stadt in Angst" wurde in der Disharmonie der Abend eröffnet. Zu Wort kamen darin unter anderem der damalige Erste Bevollmächtigte der IG Metall, Gerhard Tollkühn, DGB-Chef Helmut Haferhorn und Bürgermeister Herbert Müller. Sie machten deutlich, dass Schweinfurt auf die Hilfe des Staates angewiesen sei. Bund und Land seien gefordert.

Die Bonnmarschierer kurz vor ihrer Ankunft in Bonn.
Foto: Hannes Helferich | Die Bonnmarschierer kurz vor ihrer Ankunft in Bonn.

Zu sehen waren die großen Demonstrationen mit über 15.000 Menschen auf dem Markplatz, die große Menschenkette, ein Schweigemarsch. Verlesen wurde ein Grußwort des damaligen Bezirksleiters der IGM, Werner Neugebauer. Der außergewöhnliche Marsch sei ein Weckruf für die Politik gewesen. "Ihr seid bei den Menschen angekommen."

Kein vergleichbares Ereignis in der Geschichte der IG Metall in Schweinfurt

Der heutige Erste Bevollmächtigte der IGM, Thomas Höhn, war noch Schüler, als Schweinfurt in die Krise geriet, und musste um die eigene Zukunft bangen. Der Marsch nach Bonn sei ein Mythos geworden. "Es gibt kein vergleichbares Ereignis in der Geschichte der IG Metall in Schweinfurt." Die Veranstaltung, zu der die Gewerkschaft eingeladen hatte, solle den tiefen Respekt und die Wertschätzung für diese Leistung zeigen.

"Die Politik konnte nicht mehr wegsehen", sagt der damalige Betriebsratsvorsitzende von Preh in Bad Neustadt und Mitmarschierer Egon Friedel. Mit dem Marsch verbinden ihn "überragende Gefühle". Er habe die Gewerkschafter in der Region zusammengeschweißt.

320 Kilometer in neun Tagen waren eine Herausforderung, die die meisten an ihre Leistungsgrenze führte. 39 erreichten Bonn, wo sie zwar nicht vom Kanzler, aber immerhin von Kanzleramtsminister Friedrich Bohl trotz ihrer schmutzigen Schuhe im Amt empfangen wurden. Der Marsch hatte seinen Zweck erfüllt. Die ARD sendete einen Brennpunkt, Schweinfurt hatte die Aufmerksamkeit gefunden, die sich die Organisatoren versprochen hatten.

Pause auf dem Weg nach Bonn.
Foto: Hannes Helferich | Pause auf dem Weg nach Bonn.

Auf ihrem Marsch, der reichlich improvisiert war, stießen die Marschierer auf große Zustimmung. Ein siebenköpfiges Begleitteam musste Übernachtungsmöglichkeiten suchen. Geschlafen wurde auf Feldbetten, oft in Turnhallen, die hygienischen Möglichkeiten waren stark eingeschränkt. Mit dabei auch vier Frauen, die unter dem Schnarchen der Männer zu leiden hatten, wie eine sich erinnerte.

Keine Handys, kein GPS, nur Landkarten

Es gab keine Handys, kein GPS, nur Landkarten. Und so haben sich die Marschierer auch mal verlaufen. Für den mitlaufenden Tagblattreporter Hannes Helferich war eine besondere Herausforderung, möglichst aktuell zu berichten. Aus den Spenden, die die Marschierer erhielten, ging später die Stiftung "Schweinfurt hilft Schweinfurt" hervor.

Gemeinsam erinnerten sich viele der ehemaligen 'Bonnmarschierer' an den Tag vor 30 Jahren. Politik und Gesellschaft sollten auf die 'Krisenregion Nummer Eins' aufmerksam gemacht werden. Das Theaterensemble der Kulturwerkstatt brachte eine gelungene Vorstellung auf die Bühne
Foto: Josef Lamber | Gemeinsam erinnerten sich viele der ehemaligen "Bonnmarschierer" an den Tag vor 30 Jahren. Politik und Gesellschaft sollten auf die "Krisenregion Nummer Eins" aufmerksam gemacht werden.

Überall wurden die Marschierer herzlich empfangen, erlebten große Solidarität. Bäcker, Metzger und Bauern versorgten sie oft kostenlos. Die Kirchen boten ihre Hilfe und vor allem auch Zuspruch an. In den örtlichen Zeitungen wurde berichtet, die Menschen zeigten sich betroffen.

Was sagt uns der Marsch vor 30 Jahren heute? Mitmarschierer ZF-Betriebsrat Reiner Niklaus sieht ähnliche Herausforderungen durch die Transformation. Es sei ein erheblicher Stellenabbau zu befürchten, wobei die Hemmschwelle der Arbeitgeber niedriger geworden sei. Solidarisch sollten sich die Beschäftigten dagegen stemmen. Wie vor 30 Jahren.

Gruppenfoto der ehemaligen Teilnehmer.
Foto: Josef Lamber | Gruppenfoto der ehemaligen Teilnehmer.
 
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  • Philipp Becker
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  • Peter Koch
    Auch ich habe damals demonstriert, allerdings in Nürnberg. Auch dort hatte ein Kugellagerhersteller sein Kapital im Osten verzockt und musste Insolvenz anmelden. Der damalige Wirtschaftsminister Wiesheu hat dann entschieden, dass es reichen würde nur die FAG zu retten und so gingen etwa 900 Arbeitsplätze verloren.
    Die Zocker von damals hatten keine Nachteile, zumindestens viel geringere als ihre Mitarbeiter. Einige haben sich sogar kräftig bereichert.
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