Die ältere Generation kennt sie: Dr. Antje-Katrin Kühnemann, die adrette Ärztin aus dem Bayerischen Fernsehen. Sie hat in ihrer Sendung "Sprechstunde" 34 Jahre lang mit beiläufiger Eindringlichkeit über alle Wehwehchen geredet. Das war die alte Art von Telemedizin.
Heutzutage hat Telemedizin rein gar nichts mehr mit diesem TV-Gesundheitsmagazin zu tun. Telemedizin kann Leben retten, weil sie ihre Instrument digitalisiert per Internet schnell und effizient einsetzen kann.Eine Keimzelle dieser neuen Sparte ist in der Rhön angesiedelt, im Zentrum für Telemedizin (ZTM) in Bad Kissingen.
Per Klick zum Arzt oder Patienten
Diese Einrichtung passt als regionaler Leuchtturm punktgenau zur Themenausgabe "30 Jahre Internet". Sie würde es ohne Digitalisierung und das schnelle Netz nicht geben. Ein Klick - und schon ist der Patient beim Hausarzt; ein Klick - und schon schickt der Notarzt wichtige Dateien ans Krankenhaus, wohin das Unfallopfer gerade mit Blaulicht gebracht wird; ein Klick - und schon kann ein behandelnder Arzt seinen kilometerweit entfernten Kollegen fragen, ob die Diagnose zutrift. Das alles verspricht die Telemedizin. Nach der Schweiz ist sie seit 2018 auch in Deutschland und Frankreich erlaubt.
Also Anruf beim ZTM in Bad Kissingen. Die beiden Geschäftsführer Dr. Asarnusch Rashid und Sebastian Dresbach sind nicht da. Aber Moment, es gibt ja das Internet. Per Video-Cam sitzt einem kurz danach der 37-jährige Rashid gleichsam gegenüber auf einem Großbildschirm. Er in Karlsruhe, wir in Bad Kissingen am großen ZTM-Konferenz-Tisch.
Am Computer des älteren Bruders neugierig geworden
Der Mann weiß, wovon er spricht. Der gebürtige Baden-Württemberger hat in Karlsruhe Informatik studiert und promoviert. Im Forschungszentrum Informatik seiner Uni leitete er die Abteilung Health Care Logistics. Seit 2015 verantwortet Rashid im ZTM Bad Kissingen die Forschung und Entwicklung zu telemedizinischen Dienstleistungen und Produkten. Seine Schwerpunkte: Telematik im Notfallmanagement und Rettungswesen, technische Assistenzsysteme in ambulanter und stationärer Pflege, elektronische Patientenakten, Tele- und Netzwerkmedizin.
Als Asarnusch Rashid sieben Jahre alt war, wurde das Internet erfunden. "Mein Glück damals war, dass mein Bruder schon einen Computer hatte. Auf dem habe ich spielerisch den Umgang mit diesem neuen Medium gelernt - es war spannend und machte mich neugierig." Sein medizinisch geprägtes Elternhaus gab ihm offensichtlich auch die Nähe zu seiner jetzigen Tätigkeit mit. In die Region ist er schon 2005 gekommen, als das Stroke-Angel-Projekt am Rhön-Klinikum in Bad Neustadt entwickelt wurde. Stroke Angel bedeutet ebenfalls die schnelle Datenübermittlung bei Schlaganfall-Patienten an das Klinikum. "Schon da habe ich gemerkt, dass das eine starke Nische ist. Da gibt es Mediziner, Wissenschaftler und Praktiker, die wissen, worauf es ankommt." In anderen Regionen brauche es sechs Monate, in Bad Neustadt genügten drei Tage, freut sich der Informatiker noch immer.
Auch deshalb habe man die Rhön als Modellregion für die Telemedizin auserkoren. Die Bevölkerung ist statistisch gesehen älter als in anderen Gebieten Deutschlands, dennoch gibt es in und um die vier Kurstädte herum eine intakte Gesundheitswirtschaft mit einer hohen Dichte an Akut- und Rehakliniken, Pflegeeinrichtungen und Medizintechnik-Unternehmen. Das sei genau der Boden, auf dem das Pflänzchen Telemedizin wachsen könne. "Ich habe hier viele Akteure kennengelernt, die Technik atmen und wissen, wie wichtig solche Leuchttürme sein müssen - ideale Bedingungen, um telemedizinische Innovationen zu erforschen und für andere Regionen zur Produktreife zu führen", vergisst Rashid nicht zu erwähnen. Überdies seien die Wege in der Rhön zwischen den Handelnden sehr kurz und sehr gut ausgebaut.
Auszeichnungen für das Stroke-Angel-Projekt
Kein Wunder, dass das Stroke-Angel-Projekt schnell überregional für Aufsehen sorgte. Auszeichnungen (Golden Helix Award 2008, Karl-Storz-Telemedizin-Preis 2012) folgten. Als 2010 das bayerische Kabinett den Beschluss gefasst hatte, das Gesundheitswesen im ländlichen Raum zu fördern, waren sich Politik, Medizin und Wissenschaftler schnell über ein Institut in der Rhön einig. Das Zentrum für Telemedizin wurde 2012 in Bad Kissingen gegründet. Auch da lobt Rashid die pragmatische Rhön. "Während wir woanders immer mit langen Wartezeiten für unsere Projekte rechnen müssen, laufen hier fünf gleichzeitig!"
Als Beispiel nennt er Bad Königshofen. Dort vernetzt das ZTM das Haus am Kurpark, ein Mutter-Kind-Kurhaus, telemedizinisch. "Das Haus bekommt ein videogestütztes Versorgungsmodell für die Kurgäste. Bei der Tele-Visite sollen nicht-dringliche Beschwerden aus der Allgemeinmedizin, Pädiatrie und Psychosomatik per Video-Chat behandelt werden", erläutert Rashid. Über diese Art der Kommunikation werde das Haus ärztlich unterstützt, wenn kein Hausarzt zu greifen ist. Das ZTM arbeite bei diesem digitalen Service eng mit dem Rhön Klinikum Campus Bad Neustadt zusammen.
"Das Ziel ist, über Telemedizin eine langfristige und zeitnahe medizinische Versorgung für die Kurenden sicherzustellen. Das steigert die Attraktivität des Kurhauses und entlastet die Ärzte vor Ort." Raschids Vater macht als Facharzt selbst bei der Tele-Visite mit. Als nächstes werde das Haus am Kurpark und die Kliniken mit der nötigen Technik für die Videokommunikation ausgestattet und die Anwender geschult. Gefördert wird das Projekt vom Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege.
Projekt MONA wird weitergeführt
Ein weiteres Projekt, das vom ZTM ausging, werde auch weitergeführt. Im vergangenen Sommer sind vier Hausarzt-Praxen (Fröhling in Hohenroth, Staab & Stoll in Burkardroth/Bad Bocklet, Fitzke in Bad Kissingen und das Hammelburger Ärztezentrum) mit MONA ausgestattet worden. "MONA" ist eine mobile netzwerkmedizinische Assistenz für Hausärzte. Qualifizierte medizinische Fachangestellte haben in diesem Projekt bei Hausbesuchen telemedizinische Versorgungsansätze in den Landkreisen Bad Kissingen und Rhön-Grabfeld erprobt.
Ziel ist es, die medizinische Versorgung der Zukunft im ländlichen Raum innovativ zu erweitern. Im MONA-Koffer waren ein Tablet für Dokumentation, für Videokommunikation und für den Daten-Abruf, zusätzlich Messsysteme mit Otoskop, EKG-Monitoring, Stethoskop und eine Fotokamera für die Wunddokumentation. Laut Rashid wurden über 50 Erhebungen mit dem MONA-Koffer durchgeführt, am häufigsten wurde das mobile EKG und die Wunddokumentations-Software eingesetzt. Das Projekt habe sowohl bei den Anwendern als auch bei den Patienten eine hohe Akzeptanz. "Bei den vielen positiven Rückmeldungen haben wir uns entschieden, den MONA-Koffer weiterzuentwickeln und die Testphase zu verlängern", freut sich der ZTM-Geschäftsführer.
Das alles wäre ohne Digitalisierung und Internet nicht möglich gewesen. "Ich bin schon beeindruckt, wie sich dieses Thema in den 30 Jahren entwickelt hat. Es ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen!", sagt Rashid. Nur die Funklöcher im ländlichen Raum müssten noch beseitigt werden. Dann könne das Internet für Medizin und Gesundheit noch effektiver genutzt werden im ländlichen Raum, als ehedem die TV-Sprechstunde von Dr. Antje-Katrin Kühnemann.
Wunddokumentation lässt sich heutzutage perfekt mit dem Smartphone erledigen, dafür braucht es keinen extra Koffer.