
Vor 70 Jahren, im Jahr 1954, haben sie im städtischen Realgymnasium von Bad Neustadt ihr Abitur gemacht. Dort, wo sich jetzt der Bildhäuser Hof befindet. Nun fand ein Klassentreffen der fröhlichen Art statt. Neun Damen und Herren, alle um die 90 Jahre alt, freuten sich sehr über das Wiedersehen nach einem Jahr. Bei dem Treffen gaben die ehemaligen Schülerinnen und Schüler Einblicke in ihr Leben.
Organisiert wurde das Treffen von Viktoria Pracht. Es wurde gelacht und geschäkert, Geschichten erzählt und Neuigkeiten ausgetauscht. "Wir treffen uns jetzt jährlich, seitdem wir ein gewisses Alter haben", schmunzelte Pracht. Sehr interessant zu hören sind die verschiedenen Lebensgeschichten der Senioren.

Rolf Wüstling studierte nach seinem Abitur 1954 in Bad Neustadt Elektrotechnik in Würzburg und wohnt seit 1973 in der Nähe von Karlsruhe. In die Rhön kam er immer wieder gerne. Da seine Mutter in der Vill’schen Altenstiftung betreut wurde, positionierte er seinen Caravan in Bischofsheim auf dem Campingplatz. So konnte er seine Mutter auch über eine längere Zeit besuchen. Wüstling arbeitete nach dem Studium bei der Firma Zuse in Bad Hersfeld, was ihm heute bei der Bedienung seines Smartphones zugutekommt. Trotz seines Alters kann er sich mit Künstlicher Intelligenz (KI) gut anfreunden.
Franz Pecht hätte eigentlich gerne Architektur studiert
Anders verlief das Leben von Renate Borst. Sie heiratete nach dem Abitur ihren Mann, der hier Schulrat war und bekam drei Kinder. Mit ihrem Leben als Hausfrau und Mutter war sie immer zufrieden, wie sie strahlend erzählte. Ihr Lebensweg führte sie über München und Bad Neustadt nach Bonn-Bad Godesberg, wo sie jetzt wohnt. Als Kommunikationsmittel reicht ihr ein Handy. "Ich will nur damit telefonieren. Und meine weit verstreut lebenden Kinder erreichen."

Karlhans Kupfersberger lebt seit 1964 in Aachen, wo er Maschinenbau studierte. Er sei immer gerne hier in der Rhön, erzählt er. Nach einem kurzen beruflichen Ausflug nach Aschaffenburg kehrte er wieder nach Aachen zurück. Auch, weil seine Ehefrau von dort stammte. Er wolle kein Smartphone, sagte er. Sein Handy langt ihm, damit telefoniert er mit seinen Kindern.
Knapp 90 Jahre alt ist Franz Pecht aus Bad Neustadt. Als Geschäftsmann ist er in der Saalestadt bekannt. Was jedoch weniger Menschen wissen: Pecht hätte eigentlich gerne Architektur studiert. Doch sein Vater drängte ihn, Betriebswirtschaftslehre (BWL) zu studieren als Grundlage für die Übernahme des Kaufhauses, damals noch in der Hohnstraße 3.
"Wir wurden nicht gefragt, was wir wollen. Es wurde gesagt, du machst das und wir machten das." Auch seine zwei Schwestern seien von jung an im Kaufhaus tätig gewesen. Während der Semesterferien arbeitete Franz Pecht bei Siemens im Kaufmannsbüro. "Das hat mir sehr geholfen", sagt er. Auch in der Kreditabteilung der Sparkasse war er tätig. "Auch da habe ich viel gelernt", meint er und lacht.
Ruth Fickel und ihr Mann kehrten aus Düsseldorf nach Bad Neustadt zurück
Eine andere, fast 90-jährige Ur-Neustädterin ist Ruth Fickel. Als Zahnärztin ist auch sie in der Stadt bekannt. Studiert hat sie in Würzburg, Tübingen und Düsseldorf. Nachdem sie längere Zeit mit ihrem Mann in Düsseldorf gelebt hatte, kehrten sie nach Bad Neustadt und in die Rhön zurück. Sie sind viel gereist und mit dem Rad unterwegs gewesen.

Viktoria Pracht studierte Pharmazie in Würzburg, wo sie auch ihren Mann kennenlernte. Viele Jahre führte sie gemeinsam mit ihrem Mann eine Apotheke in Essen. 1989 kehrten sie nach Bad Neustadt zurück. Sie kommt ganz ohne Handy aus. Pracht hat zu Hause ihr Festnetztelefon mit Mobilteil. "Das langt", sagte sie. Ihre Tochter wohnt bei ihr im Haus und versorgt mit ihr den Familienhund und die sechs Katzen.
Gerti Ritzmann zog 1972 nach Augsburg. Sie ist promovierte Englisch- und Deutsch-Lehrerin und kommt gerne zu den jährlichen Klassentreffen. Auf dem Friedhof besucht sie dann immer ihr Elterngrab.
Wilhelm Karl verschlug es nach München
Wilhelm Karl wohnte während seiner Schulzeit am Realgymnasium in Stockheim. Im Frühjahr und Sommer fuhr er mit dem Fahrrad nach Bad Neustadt, im Herbst und Winter mit dem Zug. Stattdessen wurde er ab und zu von einem Holzvergaser, das ist ein Lastkraftwagen mit Hütte, wie er erklärt, mitgenommen. Bis zum Abitur diente er in der Kirche von Stockheim als Ministrant. Danach verschlug es ihn nach München. Dort studierte er Maschinenbau und ist bis heute in der Gegend geblieben. Er wohnt mit seiner Frau in Puchheim bei Fürstenfeldbruck. Was er als Glücksfall empfand, war seine Arbeit im Patentamt, die er bis zur Rente ausübte.

Zuvor konstruierte er Geräte bei Siemens und war in der IT-Technik beschäftigt. Er hat drei Kinder, die in Berlin, Köln und Paris leben. Aber der enge Kontakt sei geblieben. Aus der Schulzeit ist ihm ein Streich in Erinnerung geblieben. Die Schüler klemmten das Goggomobil des Paters, ihres Religionslehrers, am Haus im Innenhof des Bildhäuser Hofs ein. Und zwar in der Schütte, die in den Keller führte. "Das war damals die Rache, weil er eine Ex an Fasching ansetzte", so Karl lachend.
Er kommt immer wieder gerne nach Stockheim. Erinnern kann er sich an den Einmarsch der Amerikaner. Die Panzer fuhren durch das Dorf in Richtung Mellrichstadt. Sie kehrten jedoch nach Stockheim zurück, weil sie von Mellrichstadt aus beschossen wurden. Da Karl an der Hauptstraße wohnte, kamen die amerikanischen Soldaten in ihr Haus und hielten vom Dachfenster aus Ausschau. Seine Mutter kochte Kaffee für die Soldaten. "Wir hatten keine Angst vor den amerikanischen Soldaten."
Am meisten aus seinem Leben zu erzählen hatte Herbert Büttner
Am meisten aus seinem Leben zu erzählen hatte Herbert Büttner. Er wohnte in der Kellereigasse in Bad Neustadt, dann in der Otto-Hahn-Straße und zum Schluss bis zum Abitur in der Hedwig-Fichtel-Straße. Er studierte in München BWL und schlug relativ schnell die Beamtenlaufbahn beim Finanzamt ein. Als Diplom-Betriebswirt wollte er eigentlich Steuerberater werden. Es kam anders. Er ging ans Oberste Steuergericht in München und blieb dort 30 Jahre bis zu seiner Pension.
Er wohnt in München in der Nähe des Tiergartens, mit Blick auf die Isar. Von seinen drei Kindern lebt nur noch eines dort. Die anderen beiden sind nach Berlin gezogen. Aus München wolle er nicht mehr weg, erinnert sich aber gerne an seine Jugend in Bad Neustadt.

Auf den Saalewiesen schaute er versteckt den englischen Flugzeugen zu, wie sie die Züge beschossen. Plötzlich seien alle Menschen aus der Stadt gerannt gekommen und hätten gerufen: "Die Amis kommen." Sein Freund und er hätten furchtbare Angst gehabt und seien in das nächste Haus gerannt. Dort hätten ihnen die Leute je einen Stock gegeben, worauf sie eine weiße Tüte gesteckt hätten. Und so seien beide kleinen Buben zitternd durch die Stadt in die Kellereigasse gelaufen. Viele amerikanische Soldaten mit Gewehr im Anschlag und Panzer seien da gewesen. Doch niemand habe ihnen etwas angetan, bis sie zu Hause waren.
"Es war schrecklich, furchtbar. Ich fühle das heute noch", sagt Büttner. Doch später hätte er sich mit den Amerikanern angefreundet und durfte sich in den Jeep setzen. Seine ersten Worte auf Englisch waren: chewing gum und chocolate. Ein anderes Mal hat er den Gefängnisinsassen Brot gebracht, weil sie Hunger hatten. In einem Körbchen an der Schnur zogen sie das Brot nach oben zum Zellenfenster. Das Gefängnis lag gegenüber der Familienwohnung.
Und so saßen die Damen und Herren des Abiturjahrgangs 1954 noch den ganzen Abend zusammen und erzählten Neuigkeiten, schwelgen aber auch in Erinnerungen. Bis zum nächsten Jahr. Wenn es dann heißt: Wir haben vor 71 Jahren Abitur gemacht.