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Bad Neustadt
Rhön-Grabfeld: Corona stresst die menschliche Psyche
Vom Kontrollverlust bis zur Depressionsspirale. Professor Dr. med. Martin Siepmann erläutert, welche Folgen anhaltende Angst und Unsicherheit auf Menschen haben können.
Die Corona-Krise kann die Psyche belasten. Anhaltende Angst und Verunsicherung machen den Menschen zu schaffen. 
Foto: Peter Steffen/dpa (Symbolbild) | Die Corona-Krise kann die Psyche belasten. Anhaltende Angst und Verunsicherung machen den Menschen zu schaffen. 
Sigrid Brunner
 |  aktualisiert: 08.02.2024 13:08 Uhr

Die Corona-Pandemie und die Beschränkungen des öffentlichen Lebens sind auch für den Kopf eine Belastung. Die Menschen haben Angst vor einer Ansteckung mit dem Virus und fühlen sich durch die notwendige räumliche Distanz zunehmend isoliert und vereinsamt. Meinte man früher, sein Leben im Großen und Ganzen unter Kontrolle zu haben, so wird derzeit der Alltag von zahlreichen Unwägbarkeiten bestimmt. 

Was macht diese Pandemie mit der menschlichen Psyche? Woher kommen unsere Ängste und Verstimmungen? Welche Folgen kann anhaltende Unsicherheit auf den Menschen haben? Professor Dr. med. Martin Siepmann ist Ärztlicher Direktor der Psychosomatischen Klinik am Rhön-Klinikum Campus Bad Neustadt. Gegenüber dieser Zeitung äußert er sich dazu, wie die momentane Ausnahmesituation auf den Menschen einwirkt. 

Wie die Psyche eines Menschen auf Belastungen reagiert, lasse sich nie genau vorhersagen, sie sei ganz individuell von unterschiedlichen Erfahrungen und Veranlagungen geprägt. "Doch die Einschränkungen einer unberechenbaren Pandemie, die auch Expertenvorhersagen nur schwer zugänglich ist, betreffen uns gleichermaßen als kollektive Stresssituation", erklärt Prof. Siepmann. Von den Abläufen und der Planung des Alltags bis zur existenziellen Stabilität der Berufstätigkeit erlebe man scheinbare Garantien zunehmend als veränderliche Faktoren des Infektionsgeschehens. "Jeder Mensch hat das Bedürfnis, Bedingungen sowie Ziele seines Lebens selbst zu lenken."

Prof. Dr. Martin Siepmann, Ärztlicher Direktor der Psychosomatischen Klinik am Rhön-Klinikum Campus Bad Neustadt.
Foto: Ellen Türke Fotografie | Prof. Dr. Martin Siepmann, Ärztlicher Direktor der Psychosomatischen Klinik am Rhön-Klinikum Campus Bad Neustadt.

Seit Corona sei zudem stets damit zu rechnen, dass man selbst oder ein Angehöriger erkrankt oder sogar stirbt. "Das Gefühl, die gewohnte Sicherheit zu verlieren, macht in der Corona-Pandemie nicht vor äußeren Umständen halt: Unser Körper selbst offenbart seine Angreifbarkeit, seine Verletzlichkeit", erläutert der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie weiter.

"Bisher sind wir zunehmend dem Trend zur Selbstoptimierung gefolgt, ob Fitness, Ernährung oder berufliche Fähigkeiten – nun müssen wir erfahren, dass wir weder unsere körperlichen noch unsere seelischen Bedürfnisse völlig aus uns selbst heraus befriedigen können. Im letzten Grund sind wir in jeder Hinsicht auf unsere Mitmenschen angewiesen." Anstatt autark zu sein, müsse man jetzt eine Verminderung von Autonomie hinnehmen und sei auf gegenseitige Unterstützung angewiesen, etwa bei einer Versorgung im Notfall, oder dass andere eine Maske tragen, weil man sich nicht anstecken möchte.

Gefühl von Verunsicherung, Machtlosigkeit und Ausgeliefertsein

Dieses Gefühl der Verunsicherung, der Machtlosigkeit und des Ausgeliefertseins nennt man in der Psychologie Kontrollverlust. Dieser entsteht, wenn plötzlich etwas über einen hereinbricht. In den aktuellen Zeiten ist immer wieder mit einem Kontrollverlust zu rechnen - durch Krankheit und Tod oder auch den Verlust des Arbeitsplatzes. "Die Pandemie ist mit der Wucht einer Naturkatastrophe unvermittelt über uns hereingebrochen und trifft uns außerdem schlecht vorbereitet", sagt der Mediziner.

Die ansonsten Sicherheit vermittelnden Systeme seien teilweise überfordert, Rettungskräfte überlastet, Krankenhäuser überfüllt, finanzielle und wirtschaftliche Verluste drohen. "Nicht nur jedem einzelnen, sondern uns als Gesellschaft hält diese Krise den Spiegel der eigenen Endlichkeit vor Augen. Das übertrifft die 'gewöhnliche' Angst vor Krankheit und Tod."

Angriff auf die Person und ihr Selbstwertgefühl

Die Menschen reagieren auf dieses Phänomen unterschiedlich. "Manche empfinden die Krise als persönliche Attacke von außen, nehmen eine Abwehrhaltung ein und gehen in eine Art Gegenangriff über", führt Martin Siepmann aus. Dieser Gegenangriff aus der Verunsicherung heraus könne mit einem Verhalten in Erscheinung treten, das durch Egoismus, Kompromiss- und Rücksichtslosigkeit geprägt ist. Die Beschwerdeschwelle sinke, der Umgangston werde rauer und Gewalt nehme zu.

Ein anderer Abwehrmechanismus sei, dass man die Angst bereitende Situation nicht wahrhaben will, sie verdrängt und leugnet. "Das ist ein unbewusster Mechanismus. Dadurch lässt man die Angst gar nicht erst aufkommen", so Prof. Siepmann. Dieser Ansatz ist aufschlussreich, um die sogenannten Querdenker oder Corona-Leugner zu verstehen. Wenn man die Gefahr, sprich Corona, leugnet, empfinde man das politische Handeln dagegen als ungerecht und willkürlich. Corona selbst sei gar nicht so gefährlich, man sterbe nicht durch den Virus, sondern mit ihm, so die Meinung der Querdenker. Die durch Corona hervorgerufene Verunsicherung könne durchaus für Verschwörungstheorien empfänglich machen. Diese lassen einen Gegner bzw. Schuldigen greifbar erscheinen und vermitteln vermeintlich Sicherheit und Gewissheit und damit ein Gefühl der Kontrolle.

Vom Rückzug bis zur Depression

"Wir befinden uns durch Corona in einer ständigen Stresssituation", führt Siepmann aus. "Die Angst fährt unser Alarmsystem hoch." Der Mensch könne zwar mit Stress umgehen, brauche aber immer wieder Regenerationsphasen, um nicht zu erschöpfen. Wenn der Alarmzustand anhält und die individuellen Ressourcen nicht ausreichen, um die Situation erfolgreich zu bewältigen, belaste Dauerangst die Psyche. Prof. Martin Siepmann erläutert das, was die Psychologen eine "Depressionsspirale" nennen. Hinter dem Begriff verbirgt sich eine Gefühlslage, in der sich derzeit - in milderer Ausprägung - sicherlich nicht wenige Menschen wiederfinden: Eine Niedergeschlagenheit führt zu weniger Aktivität. Weniger Aktivitäten ziehen weniger positive Erfahrungen und Erfolge nach sich und weniger positive Erfahrungen bewirken weniger Zutrauen in sich selbst. Die Depressivität nimmt zu und ruft einen ausgeprägteren Rückzug hervor. Die Spirale dreht sich weiter in Form von einem Strudel aus negativer Grübelei, Unruhe und Angst, Konzentrationsmangel, Entscheidungsschwierigkeit und Schlafstörungen. Immer weniger Möglichkeiten, die Belastungen zu bewältigen, führen schließlich zur Resignation.

Abgesehen von dem Ohnmachtserleben erschweren darüber hinaus pandemiebedingte Einsamkeit, Trauer, Verlust der Tagesstruktur, zusätzliche Anforderungen an Haushalt und Beruf sowie eingeschränkte körperliche Aktivität den Alltag.Hinzu kommen die Kontaktbeschränkungen, auf die viele mit Frustration, Ärger, Wut und Aggression reagieren.

Was kann hilfreich sein?

Was kann helfen? Prof. Siepmann rät dazu, Dankbarkeit und Wertschätzung zur täglichen Routine zu machen. Zu dem, was momentan nicht geht, kann man - anstatt sich zurückzuziehen - Gegengewichte suchen. Und Resilienz lernen. Als Resilienz bezeichnet man die Fähigkeit, Herausforderungen durch Anpassung seines Verhaltens zu bewältigen. Das heißt, dass man aktiv wird, aus alten Gewohnheiten heraustritt und sein Verhalten und seine Einstellung ändert.

Zum Beispiel, indem man Gelegenheiten sucht, sich zu begegnen - über den Gartenzaun oder virtuell. Oder indem man sich, sofern es geht, bewusst macht, wie gut es einem im Verhältnis zu vielen anderen Menschen geht. Ermöglicht werden dadurch Erholungsphasen und die Fähigkeit, das Leben zu meistern. In diesem Sinne fordert der Experte dazu auf, Solidarität zu üben und angebotene Unterstützung anzunehmen. Um vielleicht auf diese Weise zu erfahren, dass Hilfe annehmen gut tut und Hilfe geben auch.

Zur Person

Prof. Dr. med. Martin Siepmann ist seit 2015 Ärztlicher Direktor der Psychosomatischen Klinik am Rhön-Klinikum Campus in Bad Neustadt. Er ist Facharzt für Neurologie und Psychiatrie sowie klinische Pharmakologie. Zudem ist er Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Sozialmedizin. Bevor Prof. Siepmann nach Bad Neustadt kam, leitete er eine Klinik für Suchterkrankungen in Sachsen und hatte zudem berufliche Stationen in Berlin, Bochum, Freiburg und Dresden.
Quelle: Rhön-Klinikum/sbr
 
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Kommentare
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  • S. K.
    mit Verlaub, aber das haben wir leider auch schon ohne Prof. gewusst und am eigenen Leib bzw. an unserer eigenen Psyche erlebt...
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  • H. E.
    und nicht nur bei "Corona".....
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