Mucksmäuschenstill ist es an diesem Vormittag in der Bürgermeister-Goebels-Halle in Bad Neustadt. Man hätte eine Stecknadel fallen hören, rund 150 Schüler aller Schularten sitzen in der Mitte der Turnhalle auf dem Boden. Die jungen Menschen hören Carsten Stahl zu, den sie bereits im Fernsehen gesehen haben - als Privatdetektiv beispielsweise. Es ist eine spezielle Form von Frontalunterricht. Denn die Schüler hören gerade die Geschichte vom damals zehnjährigen Carsten Stahl, der in der 5. Klasse Opfer von einer äußerst brutalen Form von Mobbing wurde.
Stahl war etwas dicker als seine Mitschüler, hatte rote Haare und Sommersprossen. Über Wochen wurde der Berliner von einem 15-Jährigen und weiteren Schülern bedroht oder tätlich angegangen, hat aus Angst aber weder Lehrern noch Eltern davon erzählt. Als Höhepunkt wurde er vom Angreifer schließlich in eine drei Meter tiefe Baugrube gestoßen. Er und die Mitläufer pinkelten auf ihn und lachten ihn aus. Einem zufällig vorbeilaufenden Passanten, der den schwerverletzten Jungen in der Grube entdeckte und Hilfe holte, hat er wohl sein Leben zu verdanken. Die meisten Schüler lauschen der Geschichte gespannt, einige wenige sind unruhig, bis Stahl mit nur einem einzigen Satz auch letztere und schließlich die ganze Halle zum Schweigen bringt: "Der kleine zehnjährige Junge war ich".
Einfach nicht locker gelassen
Es ist der bewusste Knalleffekt im Vortrag von Carsten Stahl, der auch Stephanie Philipp-Schirmer tief beeindruckt. Die Vereinsvorsitzende des SV Herschfeld hat mit ihren Bemühungen erst dafür gesorgt, dass der Anti-Mobbing-Trainer spätestens ab diesem Moment in den Köpfen der Kinder war und vielleicht noch ist. "Ich habe ihm eine Woche lang jeden Tag eine E-Mail geschrieben, nicht locker gelassen und ihn einfach genervt", sagt sie. Als sie dann auch noch ihre Handynummer angab, rief Stahl zurück und sagte sein Kommen zu. Auslöser für die stolze Philipp-Schirmer auf den 46-Jährigen, selbsternannten Aktivisten zuzugehen, war ein Gespräch mit ihrer Tochter über das Thema. Die Siebtklässlerin berichtete über einen aktuellen Fall an ihrer Schule. "Und da habe ich gemerkt, dass die Kinder offenbar einfach zu wenig aufgeklärt sind", erklärt sie.
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In Rita Rösch, 2. Bürgermeisterin und gleichzeitig auch Sozialbeauftragte der Stadt, hatte sie gleich eine Fürsprecherin für ihre Vision, Schüler einmal ganz anders über Mobbing aufzuklären. "Ich fand die Idee super und habe gesagt, dass wir das von Stadtseite aus unterstützen müssen", so Rösch. Der Auftritt eines bekannten Gesichtes wie Stahl hat schließlich auch seinen Preis. Die Stadt stellte der Initiatorin die Dreifachturnhalle kostenfrei zur Verfügung, etliche beeindruckte Sponsoren schulterten den Rest.
Worte treffen mitten ins Herz
Insgesamt 300 Bad Neustädter Schüler aller Schularten erleben so schließlich an zwei Vormittagen den Vortrag von Carsten Stahl, der so gar nicht an klassische Vorträge erinnerte. Die Schüler sollen zu Beginn die ihnen bekannten Schimpfwörter nennen, die diese anfangs noch witzig finden. Stahl tritt im weiteren Verlauf beispielhaft für ein Mobbingopfer heftig gegen einen Stuhl, der durch die Halle fliegt. Er schreit die Schüler teilweise wie ein Drill-Instructor an, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Seine Worte erreichen so die Schüler. Zwei Schülerinnen treffen sie mitten ins Herz, sie umarmen und trösten sich während des Vortrags.
Stahl hat vor rund fünfeinhalb Jahren mit seiner "Stoppt Mobbing"-Tour durch die Schulen begonnen, als auch sein eigener Sohn in der Grundschule Opfer wurde. Für den muskelbepackten Stahl, der selbst als Jugendlicher ins kriminelle Mileu abrutschte und zurückschlug, war das der Anfang seiner Initiative, die nunmehr fast schon 50.000 Schüler erreicht hat. "Mobbing ist ein Geschwür der Gesellschaft", verrät er, "und das beginnt schon in Kitas und ist in allen Schulformen in ganz Deutschland ein Problem". Die digitalen Kommunikationsformen und soziale Medien würden alles noch viel schlimmer machen. "Mobbing zerreißt die Seele über einen längeren Zeitraum. Cybermobbing zerfetzt eine Seele in nur fünf Minuten", so Stahl. Da gebe es auch zwischen beispielsweise Frankfurt und Bad Neustadt keinen Unterschied, "außer, dass in Frankfurt vielleicht noch mehr getreten wird".
Schüler zeigen sich mutig und ehrlich
Der bewusst polarisierende und vielleicht manchmal auch übertreibende Aktivist fordert allgemein mehr Mut zur Offenheit und Ehrlichkeit. Wenn Schulleiter behaupten, dass es an ihrer Schule kein Mobbing gäbe, dann sei das laut Stahl eine Schutzbehauptung, weil sie um den guten Ruf der Schule fürchten. Stattdessen hätten 90 Prozent der Schüler ab der 3. Klasse Erfahrung mit Mobbing - als Täter und als Opfer. 60 bis 70 Prozent sehen weg und 10 bis 20 Prozent hätten Stahl zufolge deshalb schon einmal Suizidgedanken gehabt. In etwa diese Prozentsätze zeigen sich auch, als der Berliner die Bad Neustädter Schüler offen danach fragt. "Ich habe euch mutig meine Geschichte erzählt. Danke, dass auch ihr jetzt mutig geantwortet habt", sagt er zu den jungen Menschen, denen man regelrecht ansieht, dass es in diesem Moment in ihren Köpfen rattert.
Aber wie kann über diese Vormittage hinaus ein Umdenken allgemein und an den Schulen in Sachen Mobbing stattfinden? Stahl selbst erklärt, er sei kein Feind der Politik, von Lehrern oder dem Schulsystem. Er fordert aber beispielsweise eine Nachschulung für Pädagogen, die die Thematik im Studium überhaupt nicht gelehrt bekämen. Für ihn grenze es an unterlassener Hilfeleistung, wenn so weiter gemacht werde, wie jetzt. Die Kultusminister stünden demnach in der Pflicht, etwas zu ändern. Eine anwesende Lehrerin hat sich nach dem Vortrag auch bei ihm bedankt. "Ich habe es nicht bereut, meine Klasse angemeldet zu haben", meint sie. Die Schüler, die sich danach auf einem gemeinsamen Plakat verewigen und quasi gegen zukünftiges Mobbing unterschreiben, dürften das auch nicht getan haben.
Ein großes Zeichen setzen
Auch für Stephanie Philipp-Schirmer und Rita Rösch soll der Auftritt von Stahl nur ein Startschuss gewesen sein. "Wir wollen weiterkämpfen und haben vor, ein großes Zeichen zu setzen", erklärt sie nach vielen positiven Rückmeldungen von Eltern und Schulen. Vielleicht einmal wieder mit Stahl, der laut der Initiatorin dann die ganze Stadthalle voll machen wolle. Und auch Bürgermeister Bruno Altrichter hat Carsten Stahl in seiner direkten und offenen Ansprache vielleicht einen kleinen Denkanstoß mitgegeben. Er könne sich vor Ablauf seiner Amtszeit doch eindringlich verabschieden, wenn sich die gesamte Stadt dem Thema Mobbing öffne. Es hätte dann eine Art Modellcharakter - und damit kennt sich die Stadt bekanntlich ja schon auf anderer Ebene gut aus.
Interessenten für mögliche weitere Aktionen können sich bei Stephanie Philipp-Schirmer, E-Mail: vorsitzender1@sv-herschfeld.de, oder bei Rita Rötsch, Kontakt über die Stadt Bad Neustadt, melden.