
Es gibt Orte, zu denen wir uns ein Leben lang zurücksehnen. Das müssen nicht fantastische Reiseziele sein. Meistens sind es Orte, an denen wir glücklich waren.
Wenn ich mich mit Menschen unterhalte, die im Zweiten Weltkrieg alles verloren haben, Heimat und Besitz zurücklassen mussten und einer ungewissen Zukunft entgegengingen, da konnte ich trotz des ernsten Gespräches ein Leuchten in ihren Augen erkennen, wenn sie von ihrer Heimat sprachen. Ihrem Zuhause, dem Schulweg, ihre Freunde und Nachbarn, die man nie wieder sah. Das verträumte Dorf und die weiten Felder.
Bilder von Flucht und Vertreibung
All das ruft auch heute noch Sehnsucht ins Herz und ist zu einer Zeit, da sich Millionen Menschen auf der Flucht befinden, von Bedeutung. Das Bild der Flucht und der Vertreibung, der Krieg und seine verheerenden Folgen sind in den Fokus des Tagesgeschehens gerückt und Erinnerungen an das eigene Schicksal werden wach.
Damals waren sie noch Kinder, sie hatten schlimme Zeiten erlebt und all das in ihrem Innersten bewahrt. Es gibt hier so etwas, das man in Worte nicht fassen kann. Es sind die Gefühle, die jeden Einzelnen bewegen, jenseits der ganz praktischen und lebenserhaltenden Dingen.
Es muss nicht nur Liebe sein, die man zurücklassen musste, es gibt andere Erfahrungen, die innerlich und äußerlich unsägliche Gefühle auslösen. Erinnerungen an eine schöne Zeit, wenn sie auch ihre Plagen hatte, und nur im Zurückschauen jetzt ein leuchtendes Bild aus der Vergangenheit widerspiegeln.
Die brennenden Dornbüsche des Lebens
Das kann eine Melodie sein oder ein Bild, das uns mit der Macht eines Vulkanausbruchs erfasst und zu Tränen rührt. Oft sind diese Gefühle nur vom Geschmack der jeweiligen Zeit und der Erfahrung des Lebens bestimmt.
Es gibt dafür keine letzte Erklärung. Sie sind da und wir müssen oder dürfen uns "wohl oder übel" dazu verhalten: schweigend, redend, singend und hörend. Diese Gefühle sind die "brennenden Dornbüsche" unseres Lebens. Heiliger Boden, in dem die Erfahrungen unseres Lebens hochkommen.
Wie oft betreten wir ihn, ohne es zu merken? Es sind die Orte der leisen Erfahrungen, des Glücks und der Geborgenheit. Jeder kennt das Gefühl der Sehnsucht nach einem Menschen oder einem Ort. Was wäre das Leben ohne Bindungen, ohne Freundschaften, ohne die Nähe eines geliebten Menschen?
Beginn einer sonderbaren Freundschaft
Es gibt etwas, das sich nicht in Worte fassen lässt. Erfahrungen, die wir schon in der Kindheit machen, Gefühle, die uns immer wieder nachdenklich machen. Ich denke da gerade an meine erste Freundin. Sie wohnte im Hause gegenüber bei ihrer Oma und ihrer Tante. Das war ohnehin schon ungewöhnlich.
Sie lebten zurückgezogen und waren fast unsichtbar. Wir beiden Mädchen kamen uns auf dem Schulweg näher. Christel, so hieß das Mädchen, ging mit mir in die gleiche Klasse. Christel war anders als die anderen Kinder. Sie hatte rotblondes Haar und in ihrem Gesicht tummelten sich viele, viele Sommersprossen.
Das hatte zur Folge, dass sie zur Zielscheibe von Spott und frechen Sprüchen wurde. Schon allein wegen der roten Haare, die ich sehr schön fand, wurde sie zur Außenseiterin. Sie war ein sehr zartes, blasses Kind, ein wenig schüchtern und wenn es die Schulkameraden gerade zu doll trieben, dann weinte sie.
Christel war ein Scheidungskind
Ich tröstete sie und auf dem Heimweg erzählte sie mir von ihrem Zuhause. Christel durfte keine Kinder mit nach Hause nehmen und sie durfte auch nicht zu anderen Kindern. Warum das so war, wusste niemand so ganz genau. Es wurde viel getuschelt, aber in Wirklichkeit war es so: Christel war ein Scheidungskind.
Das war in der damaligen Zeit eine Seltenheit. Ihre Mutter arbeitete in einer Kleiderfabrik in Wiesbaden. Sie kam von Zeit zu Zeit zu Besuch. Da war Christel glücklich. Einen Papa gab es nicht. Oma und Tante Gabi waren Christels Eltern.
Uns verband zunächst nur der gemeinsame Schulweg und die gegenüberliegenden Fenster, über die wir uns täglich austauschten, und zwar per Handzeichen. Ich kannte alle ihre Puppen und sie meine, ohne dass wir uns besuchten. Wie gerne hätte ich ihr meine kleine Welt vorgestellt, aber ihre Oma ließ es nicht zu.
So spielten wir am Fenster und entwickelten eine Sprache, die außer uns niemand kannte und auch nicht verstand. Wir hatten jeder einen Teddy. Christel hatte den gelben Otto und ich den braunen Seppel. Sie waren unsere Seelentröster und eröffneten jeden Tag unsere Unterhaltung und beendeten sie auch wieder.
Teddybären als Seelentröster
Das ging eine lange Zeit so weiter, bis Christel der Durchbruch gelang und sie durfte mich gelegentlich besuchen. Es entwickelte sich eine wunderbare Freundschaft. Wir erzählten uns alles. Genossen unbeschwerte Sommertage. Trösteten uns, wenn alles schieflief und wenn die Lage aussichtslos erschien, dann saßen wir schweigend nebeneinander, den Teddy im Arm und suchten nach einer Lösung. Wir schmiedeten Pläne, wie unsere Zukunft einmal aussehen sollte und bauten Luftschlösser.
Für uns stand fest, wir werden für immer Freunde sein. Aber das Leben geht seinen eigenen Weg. Es kam die Zeit, in der Eltern schwierig werden und wir sie nicht verstanden. Das Kinderzimmer verwandelte sich in ein Teenie-Zimmer, nur Seppl und Otto, unsere Teddys blieben unsere Begleiter. Die "Sprechstunde" am Fenster behielten wir bei.
Auf einmal war von Umzug die Rede
Eines Tages kam Christel mit einer Neuigkeit, die mich fassungslos machte. Das Wort "Umzug" stand im Raum. Ich höre es noch wir heute wie sie sagte: "Wir ziehen bald nach Würzburg und ich werde dann öfter bei meiner Mama sein." In ihrer Stimme lag eine seltsame Spannung von Neugierde und Traurigkeit. Ich konnte es nicht fassen und verschwand sofort in meinem Zimmer. Jetzt konnte nur mein Seppl helfen und die Tränen auffangen.
Die letzten Wochen waren sehr traurig. Wir bemühten uns zwar, den Schmerz zu verdrängen, aber immer und überall lauerte der Gedanke: "Es war das letzte Mal." Wir versprachen, regelmäßig zu schreiben und uns auch, wenn möglich zu besuchen, aber was kann ein Kind schon mit seinen Wünschen ausrichten?
Am Nachmittag vor unserem Abschied trafen wir uns ein letztes Mal mit unseren Teddys. Otto und Seppl mussten sich doch Adieu sagen, der Tag des Umzugs war angebrochen. Ich ging allein zur Schule. Christels Platz blieb leer. Die Lehrerin sprach kurz davon, dass Christel weggezogen ist und mir war übel vor Aufregung.
Was es bedeutet, loslassen zu müssen
Den Heimweg ging ich an diesem Tage bewusst allein. In Gedanken an meine Freundin schlich ich in unsere Wohnung und ging sofort an das Fenster. Ich schaute ins "Nichts". Das machte den Abschied nicht besser. Schnell verschwand ich wieder in mein Zimmer und heulte mich aus.
Diese Tage machten mir zum ersten Mal in meinem Leben begreiflich, was es heißt, loslassen zu müssen. Es war ein herbes Gefühl und meine Gedanken kreisten um die Tatsache, dass wir Abschied nehmen mussten. Manchmal muss etwas vergehen, dass Neues entstehen kann.
Unsere Wege trennten sich und wir verloren uns. Das Leben wartete auf uns mit neuen Eindrücken und auch neuen Freundschaften, aber in manchen Momenten, da leuchteten Erinnerungen an unsere "Fenstergespräche" auf und ich besuchte diesen Ort und sehe uns Mädchen mit Seppl und Otto am Fenster stehen.
Ein Besuch nach 20 Jahren
Nach mehr als 20 Jahren kam sie mich besuchen. Eine ganz andere Christel stand vor mir. Viel war inzwischen geschehen. Eine jede hatte ihre Geschichte. Wir hatten uns so viel zu erzählen. Die Mühlen des Lebens drehen sich weiter. Eine jede ging ihren Weg.
Und doch hat mich diese Zeit mit Christel geprägt und mir bis heute viele Fragen stellt. Habe ich sie wirklich gekannt? Ich meine schon. Auch wenn ich nicht sehr viel von ihr wusste, weil sie sehr zurückhaltend und schüchtern war, verstand ich sie. Das kleine Mädchen blieb für immer in meinem Herzen.
Der Wert von Freundschaft
Was uns in unserem Leben stützt, ist tiefe Verbundenheit mit anderen Menschen: "Freundschaft". Ich habe wunderbare Menschen in meinem Leben kennengelernt – Freunde, die mit mir durch dick und dünn gingen. Sie geben Trost, stehen zur Seite und machen das Leben hell und schön. Gemeinsam zu tratschen und lachen macht einfach glücklich.
Das Schönste, was das Leben bieten kann, ist ein regelmäßiges Ritual mit einem Lieblingsmenschen, sei es virtuell oder auch ein gemeinsamer Spaziergang oder einen Kaffeeklatsch.