
Am ersten Schultag wird endgültig spürbar, was diverse Termine monatelang zuvor leise ins Elternherz raunten: Euer Kind wird unaufhaltsam groß! Eine Erkenntnis, die einen hinterrücks trifft. Als hätte man sich‘s nicht schon am Tage der Geburt ausrechnen können.
Wenn das Kind in die Schule kommt, gerät jedes Elternpaar früher oder später ins Grübeln. Manche schon während des Vorschul-Kindergartenjahres, andere absolvieren ungerührt diverse Probe-Schulbesuche und den Schulreifetest am Gesundheitsamt, um dann während der Abschlussübernachtung im Kindergarten gefühlsschwer in die Arme mehr oder weniger bekannter Mitbetroffener zu sinken.
Premiere über Premiere

Dabei ist man doch inzwischen geübter Premierengast: Das erste Lächeln, der erste Schritt, das erste Wort. Erstmals singt es, dann schwimmt es, dann philosophiert es. Sorry für die Verklärung, das erste Mal Läuse und Magen-Darm sei an dieser Stelle nicht verschwiegen.
Jetzt feiert es eben seinen ersten Schultag. Na und?! Warum die Aufregung? Warum die 54 WhatsApp-Nachrichten am Abend der Kindergartenübernachtung in der Elterngruppe?
Und übermorgen zieht es aus
Wer Premiere sagt, denkt Derniere mit, auf jede erste Vorstellung folgt eine letzte. Das erklärt den Kloß im Hals. Kinderhaben ist auch eine Reihe von Abschieden, eine Serie des Loslassens. Begonnen mit der Geburt, endet sie vermutlich nicht mit dem Schulabschluss.
Morgen kommt es in die Schule, übermorgen wird es wahlweise zum renitenten Rüpel oder zur aufsässigen Zicke, zieht um die Häuser oder, schlimmer, zieht aus! Wo, was und wie sind wir Eltern dann überhaupt – also abgesehen von alt und peinlich?
Wenn sich Wege gabeln
Ruhig Blut! Noch ist es ja nicht so weit. Noch ist alles möglich. Auch in den elterlichen Fantasien über der Kleinen rosige Zukunft: Die Racker könnten Astronaut werden oder Tierärztin, Feuerwehrmann oder Tänzerin ...
Erfolge und Misserfolge müssen sich erst einstellen, Entscheidungen getroffen, Wege eingeschlagen werden. Doch mit dem Schuleintritt rücken die ersten Wegscheiden zumindest in Sichtweite.
Ort der Freiheit, Hort des Wissens
Dem Kind kann der Weg dorthin gar nicht schnell genug gehen. Wo Mutter und Vater bedächtig schreiten, stürmt es los. Schule, das ist in seiner Welt ein Ort der Freiheit: „Ich werde alleine durch die Stadt laufen.“ Eine Insel der Unabhängigkeit: „Ich kann Bücher ohne euch lesen.“ Ein Hort des Wissens: „Ich erfahre, wann Chamäleons ihre Farbe ändern, wie Tiere ihr Essen verdauen und wie jede Straße in dieser Stadt heißt.“

Die Kleinen bleiben auch dann zuversichtlich, wenn gefestigte Mütter zweifeln: Vor den Regalen eines Schreibwarengeschäfts mit der Materialliste für die erste Klasse in der Hand. Auf der Suche nach dem dicken Schreiblernstift mit drei Kanten, Borstenpinsel Nummer Sechs liegt schon im Korb, auch vier Schreibhefte Lineatur 1, ohne Rand, farbig unterlegt sind abgehakt. Ob in diesem rigiden Schulsystem nicht doch die Kreativität flöten geht? Die Verkäuferin winkt zwei Regale weiter mit dem Zweiloch-Anspitzer samt Dose: „Pink oder blau?“ Zwei Abende werden draufgehen, bis alle Einzelteile fein säuberlich mit Vor- und Nachnamen beschriftet sind.
Bauchgrimmen der Eltern
Mit der Einschulung ändert sich alles. Bauchgrimmen ergreift die Eltern angesichts des Wissens, dass sich die Eulenfamilie fortan zur Lerchenzeit erheben muss, dass der Arbeitstag zumindest eines Elternteils bereits am späten Vormittag endet, es sei denn, man hat einsatzbereite Großeltern oder einen der begehrten Mittagsbetreuungsplätze.
Stau im Urlaub ist vorprogrammiert. Falls man sich den in der Hauptsaison überhaupt noch leisten will. Ach, überhaupt: Dass gerade jetzt, wo so viel „Kann“ möglich wäre, das „Muss“ so dominant wird!
Über das Böse sprechen
Und dann diese Vorstellung: Jenes kleine, zerbrechliche Wesen wird ein Ungetüm von Schulranzen schleppen müssen. Natürlich eines der leichtesten und in Wahrheit überaus ergonomischen Modelle, das am Ende doch das Heidengeld gekostet hat, von dem man vor Jahresfrist noch steif und fest behauptete, man würde so viel niemals dafür ausgeben.
Und dann noch der Schulweg. Helikoptereltern – sind wir nicht. Aber. Wie heißt noch mal die Nachbarstochter, die mitlaufen könnte? Wo sollte die Gruppe die Straße überqueren? Und wie lange sollten wir es begleiten? Nicht zu vergessen das Böse. Kind, wir müssen über das Böse sprechen! Und das Grundvertrauen, das wir uns sechs Jahre lang aufzubauen bemühten, ein stückweit wieder selbst erschüttern. Bevor es andere tun.
Dialog mit Kind und Mutter

Mein Kind, ja, es gibt Gauner da draußen, auch wenn du sie – keine Sorge – wahrscheinlich, sehr wahrscheinlich, nicht zu Gesicht bekommst. Aber sei sicherheitshalber wachsam! Höflichkeit hat ihre Grenzen – es sei denn, du bist mit deinen Eltern unterwegs. Und, ja, man darf auch Nein sagen. Nein, jetzt gerade gilt das nicht. Hol mir bitte ein Taschentuch!
Ich erinnere mich an jene Episode vor vielen Jahren: Ein Abschied am Flughafen. Die Abiturientin voller Drang in die Welt, die Mutter feuchten Auges. Ein Anflug von Spott auf der einen, Wehmut auf der anderen Seite: „Hab du eines Tages selbst Kinder, dann wirst du das verstehen!“ Dabei war die flügge gewordene Tochter so zuversichtlich ob dessen, was da käme. Ward ihr doch alles mitgegeben, was es so braucht.
Was will man dem Kind mitgeben?
Was will man also dem eigenen Kind mitgeben an so einem bedeutungsträchtigen Tag? Vielleicht: Es macht Spaß, Dinge zu verstehen, Zusammenhänge zu begreifen. Allein nur halb so viel wie gemeinsam. Finde also Freunde, am besten Gute!
Dann vielleicht noch: Wissen ist nicht alles. Forsche, gestalte, tüftle, entdecke! Unterscheide Recht von Unrecht! Und steh ein für deine Meinung!
Gute Ratschläge und so weiter
Was es darüber hinaus zu sagen gibt? Dass es Tage gibt, an denen man sich vor Lachen kullert. Genauso wie es Tage gibt, an denen du einfach verlierst. Situationen, in denen du dich eins fühlst mit der Welt und Momente, in denen du anders als alle bist.
Und: Nicht immer finden einen die Erfolge wie die Pollen den Allergiker. Im Gegenteil: Du wirst dich anstrengen, manches tausendfach üben und letztlich dir selbst helfen müssen.
Zum Teufel mit allen guten Ratschläge. Aber einer noch: Lach dem Leben ins Gesicht! Lauf los, es wartet dort, hinter der nächsten Straßenecke. Ich? Ich geh nur noch bis zum grünen Haus mit.
Die Autorin: Ines Renninger, 31, arbeitet in der Lokalredaktion in Bad Neustadt. Der zweifachen Mutter ist mittlerweile nicht mehr bang vor dem diesjährigen Schuleintritt ihres ältesten Kindes. Schließlich hat ihr Nachwuchs sie erst kürzlich zugunsten zweier Freunde aus dem gemeinsamen Zelt geworfen: „Keine Angst, ich bin groß. Oder bist du etwa noch nicht bereit, alleine zu zelten?“
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