Andreas Nävie ließ es am ersten März-Wochenende 2020 mit drei Freunden so richtig krachen. Nach dem Skifahren bei Kaiserwetter gingen sie essen und feiern. Die Tage waren unbeschwert, der Flachmann machte die Runde. Sie lagen sich in den Armen, genossen die Sonne. Das Leben. Die Freiheit.
Der Ort, an dem der junge Mann aus Wollbach (Lkr. Rhön-Grabfeld) den bisher letzten Skiurlaub verbrachte, ist seither weltweit bekannt: Die österreichische Party-Hochburg Ischgl mit der Après-Ski-Bar "Kitzloch" als Epizentrum der ausgelassenen Freude. Auf der Website des "Kitzlochs" steht geschrieben: "Von 16 bis 19 Uhr erleben Sie bei uns aufregendsten Après-Ski". Dieser Marketing-Spruch sollte sich bewahrheiten.
Eine Woche nach Aschermittwoch 2020 hatten sich Andreas Nävie und seine Freunde auf den Weg nach Tirol gemacht. "Wir waren zwei Mal im ,Kitzloch' zum Abendessen und einmal zum Après-Ski." Nach einem schönen Ski-Wochenende begaben sich die vier Freunde auf den Rückweg in die Rhön. "Als ich meinen Koffer in meiner Wollbacher Wohnung ausgepackt hatte, schickte mir einer meiner Freunde einen Zeitungsartikel. Darin wurden das ,Kitz' und ganz Ischgl als Corona-Hotspot und Superspreader-Event thematisiert. Wir waren richtig schockiert, weil Corona für uns zum Zeitpunkt des Urlaubs noch ganz weit weg und vor allem auch ein Fremdwort war. Etwas, das uns und die Rhön schon irgendwie verschonen wird", erinnert sich Nävie. Heute, ein Jahr später, gestehen sich gewiss viele Menschen ein, ähnlich gedacht zu haben. Heute weiß man mehr.
Ohne Symptome in freiwillige Quarantäne
Rückblickend hat sich der 28-Jährige vorbildlich verhalten. "Ohne, dass ich den Ansatz von Symptomen gehabt hätte, habe ich im Gesundheitsamt angerufen und dort mehrfach meine Situation erklärt. Ich habe deutlich gemacht, dass ich mich mit hoher Wahrscheinlichkeit mit dem Corona-Virus angesteckt haben könnte." Die Indizien – auch ohne Symptome – waren schließlich erdrückend. Doch auch im Gesundheitsamt war Corona offensichtlich noch nicht ganz angekommen. "Die Mitarbeiter waren so unerfahren mit dem Virus wie ich und wussten auch gar nicht, wie sie sich verhalten sollten." Irgendwie verständlich. Schließlich beschäftigen sich auch die Gesundheitsämter in Deutschland und Bayern nicht jeden Tag mit Virusinfektionen pandemischen Ausmaßes.
"Auch ohne Ansage vom Gesundheitsamt habe ich mich freiwillig in Quarantäne begeben", sagt Andreas Nävie. "Ich wollte einfach niemanden anstecken. Erst als ich den Presseartikel, der auch mich zu meinem Handeln veranlasst hatte, an das Gesundheitsamt geschickt hatte, wurden die Behörden aktiv."
Die Astronauten im Treppenhaus
Zwei Tage nach der Rückreise, nachts um 1 Uhr, kam schließlich der medizinische Dienst und "machte bei mir Zuhause einen Rachen- und Nasenabstrich", so Nävie. "Als das medizinische Personal mit Schutzanzügen – wie Astronauten gekleidet – das Treppenhaus betraten, wusste ich, dass mit diesem Virus offenbar nicht zu scherzen ist. Es war surreal." Am Donnerstag, vier Tage nach seiner Rückkehr aus Ischgl, kam die Nachricht, die er gerne nie gehört hätte: Das Testergebnis war positiv. Andreas Nävie war der erste offiziell bekannte Corona-Fall in Rhön-Grabfeld.
Von seinen drei Freunden aus Thüringen, die mit ihm beim Skifahren in Ischgl gewesen waren, hatten sich ebenfalls zwei mit Corona infiziert.
Langsam traten bei Nävie erste Symptome auf. Er fühlte sich ein wenig schlaff, hatte Fieber, Schnupfen und Gliederschmerzen. "Hätte ich den Artikel damals nicht gelesen, wäre ich vielleicht am Donnerstag, als mein Urlaub vorbei war, wieder mit ‚Schnupfen und einer leichten Erkältung‘ in die Arbeit gegangen." An diesem Tag deklarierte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den COVID-19-Ausbruch zur Pandemie. Corona war überall.
Quarantäne: "Was brauche ich denn überhaupt?"
Mit dem Testergebnis begann für Andreas Nävie auch die Quarantäne – die erste coronabedingte in Rhön-Grabfeld. "Heute ist es ganz normal, Mitmenschen, Nachbarn und Freunde um den Gefallen zu bitten, einkaufen zu gehen und Essen zu besorgen. Vor einem Jahr war das noch völlig ungewohnt." Der junge Rhöner fragte sich: "Was brauche ich denn überhaupt?"
Wenngleich Nävies Haus am Ortsrand liegt, verbreitete sich die Nachricht von den Menschen in Schutzanzügen wie ein Lauffeuer in Wollbach. Radfahrer und Spaziergänger zeigten mit dem Finger darauf: "Das ist das Corona-Haus. Die Menschen, die da rauskommen, sind bestimmt gefährlich." Auch die Nachbarn von Nävie wurden angesprochen – teilweise gemieden und angefeindet. Einer dieser damaligen Nachbarn erinnert sich: "Schmierinfektionen, Aerosole, Infektiösität und Tröpfchenbildung waren uns ja damals völlig fremd. Instinktiv gingen wir mit Handschuhen und hochgezogenem Kragen durchs Treppenhaus. Wir hatten ja keine Ahnung. Es war ein komisches Gefühl."
Nach über zwei Wochen Quarantäne durfte Nävie seine Wohnung wieder verlassen. "In der Zeit, als ich zu Hause bleiben musste, verschärften sich die Abstands- und Hygienemaßnahmen. Bei meinem ersten Einkauf im Supermarkt dachte ich, dass sich die Menschen im Speziellen von mir distanzierten." Heute kann er darüber schmunzeln.
Herzlicher Empfang bei den Arbeitskollegen
Erfreulich für den gelernten Elektrotechniker war die Reaktion bei seinen Arbeitskollegen in Bad Neustadt. "Meine Kolleginnen und Kollegen wollten alles wissen, fühlten mit mir und freuten sich, dass ich wieder gesund zurück war. Nur ein paar lockere 'Patient-Null-Sprüche' unter Kollegen. Sonst nichts. Sie scherzten, dass sich 'Patient Eins' positiver anhöre." Er sei in seiner Firma überhaupt nicht ausgegrenzt worden. "Viele waren nur wissbegierig und erkundigten sich nach mir und meiner Covid19-Erkrankung. Das weiß ich zu schätzen und hat mich wirklich gefreut."
Rückblickend ist Andreas Nävie, der sich in seiner Freizeit beim THW engagiert, froh, dass er relativ glimpflich durch die Corona-Krise gekommen ist. "Gerne hätte ich es mir erspart, der erste Corona-Fall in Rhön-Grabfeld zu sein. Angesteckt habe ich meines Wissens niemanden. Ob ich jedoch meine Freundin mit Corona infiziert habe, weiß ich bis heute nicht." Sie sei zwar damals auch getestet worden. Doch auf das Ergebnis wartete sie vergeblich.
"Die Null steht doch als Zeichen für das -NICHTS-" gut erkannt; -Kompliment-