
Die alte Frau weist die Straße nach oben. Hinter der Kirche und einigen Häusern am Ortsende befinde sich der Ehrenhain. Auf die Frage, ob die Gedenkstätte und die damit verbundenen Geschehnisse noch Thema im Dorf sind, winkt sie ab und geht weiter. "Das ist doch so lange her!" Sie kann oder will nicht mehr darüber sagen.
In der Tat ist der Ausgangspunkt der Geschehnisse, die das 150-Seelen-Dörfchen Wiesenfeld in der thüringischen Rhön kurz in den Blickpunkt der Weltpolitik rückten und Anlass für den Bau des Ehrenhains wurden, 60 Jahre her. Ganz vergessen sind sie aber nicht. Schließlich sind damit zwei Todesfälle verbunden, deren genaue Umstände bis heute nicht geklärt sind.

Das Drama beginnt am 14. August 1962. Laut der Wetterprognosen soll es an diesem Dienstag sommerlich heiß werden. Am Vortag ist der erste Jahrestag des Baus der Berliner Mauer vom Westen gegeißelt, vom Osten gefeiert worden. Die Lage an der Grenze, auch in der Rhön, ist angespannt.
27 verhaftete Grenzverletzer und zwei Schlappen für Hauptmann Rudi Arnstadt
Angespannt soll auch Rudi Arnstadt gewesen sein. Der 36-jährige Hauptmann der Grenztruppen im Bereich Wiesenfeld erzielte in der Vergangenheit manche "Erfolge". So sind im Zuständigkeitsbereich des Chefs der 6. Kompanie der 11. Grenzbrigade Meiningen in dem Jahr schon 27 Grenzverletzer festgenommen worden. In den Tagen zuvor musste er allerdings zwei Schlappen einstecken.
Nachdem sechs Jahre lang kein Soldat seiner Grenzkompanie geflohen war, gelang dies nun einem Zugführer. Auch ein Soldat der Pioniereinheiten, die gerade dabei sind, die Sperranlagen in der Rhön weiter auszubauen, und dabei von der Grenzkompanie bewacht werden, ist wenige Tage zuvor mit einem Artillerieschlepper über die Grenze geflüchtet. Das Fahrzeug wird von den Amerikanern beschlagnahmt. Dem Kompaniechef droht eine Maßregelung.
Gegen 10.30 Uhr lässt sich Arnstadt von einem Fahrer vom Kompaniegebäude in Wiesenfeld an die wenige hundert Meter entfernte Grenze bringen. Schon wenige Minuten später ist er an vorderster Linie, wo seit dem frühen Morgen etwa 150 NVA-Pioniere statt der früheren Holzpfosten neue Pfähle aus Beton in den Boden rammen, die dann mit Stacheldraht verbunden werden, um die Flucht aus der DDR noch weiter zu erschweren.
Arnstadts Begleiter gibt einen Warnschuss ab
Auf der anderen Seite der Grenze werden die Arbeiten unter anderem von Beamten des Bundesgrenzschutzes (BGS) beobachtet. Was hier um kurz nach 11 Uhr geschieht, ist bis heute unklar. Zu unterschiedlich sind die Aussagen aus Ost und West über die Vorgänge in den nächsten Minuten.
Zunächst kontrolliert der als sehr streng beschriebene Offizier Rudi Arnstadt seine Grenzposten, deren Aufgabe darin besteht, NVA-Pioniere von einer möglichen Flucht abzuhalten. Dann, so die DDR-Recherchen, fallen ihm zwei bundesdeutsche Grenzschützer auf, die sich mehrere Schritte weit auf DDR-Territorium befinden, wobei der exakte Verlauf der Grenze in diesem Bereich nur schwer auszumachen ist, da die Grenzlinie hier mehrere Zacken und Ausbuchtungen hat. Auf einen entsprechenden Hinweis des DDR-Grenzers ziehen sich die beiden zurück.

Wenig später nähert sich erneut eine dreiköpfige Patrouille des BGS der Grenze. Wie der Begleiter von Arnstadt, Karlheinz Roßner, später aussagt, springt Arnstadt auf, als die drei Westdeutschen nur wenige Meter entfernt sind, und ruft so etwas wie: "Halt! Stehen bleiben! Hände hoch!". Gleichzeitig gibt Roßner mit seiner Maschinenpistole befehlsgemäß einen Warnschuss in die Luft ab.
Nach den Aussagen der BGSler zielt und schießt aber auch Arnstadt auf den Führer der Patrouille. Als er erneut zielt, will der 23-jährige BGS-Gefreite Hans Plüschke den Offizier schützen und gibt aus der Hüfte mehrere Schüsse mit seiner Maschinenpistole auf die DDR-Grenzer ab. Eine Kugel trifft Rudi Arnstadt am rechten Auge. Er stirbt wenig später auf dem Weg ins Krankenhaus.
Es kommt zu einer heftigen Schießerei an der deutsch-deutschen Grenze
In der Folge kommt es zu einer der heftigsten Schießereien an der deutsch-deutschen Grenze, bei der Deutsche auf Deutsche schießen. Glücklicherweise wird niemand verletzt. Während Kriminalisten beider Seiten wenig später die Vorgänge vor Ort untersuchen, rücken auf beiden Seiten der Grenze Panzer vor, Soldaten bauen ihre Maschinengewehre auf. Die Lage ist ernst und findet auch international Beachtung. Doch die zunächst befürchtete Konfrontation bleibt aus.
Haben die BGS-Beamten die Grenze überschritten? Hat Hauptmann Arnstadt überhaupt auf sie gezielt und geschossen? Warum kam es überhaupt zu dem Vorfall? Wollte Arnstadt den BGS-Mann entführen, um ihn gegen den Artillerieschlepper auszutauschen und sein ramponiertes Image wieder zu verbessern. Alles Fragen, die nie sicher beantwortet werden konnten. Unter anderem, weil sich Zeugen finden, die jeweils die unterschiedlichen Versionen bestätigten.
Auch gibt es nie einen Abgleich der Untersuchungsergebnisse von West- und Ost-Behörden. Als der nach Wende möglich ist, sind Akten der DDR-Kriminalpolizei und der Stasi verschwunden.
In Ost wie West werden Fakten zurechtgebogen oder verschwiegen
Mehr als 50 Jahre später haben Jan Schönfelder und Rainer Erices in ihrem Buch "Todessache Rudi Arnstadt" versucht, die Ereignisse zu rekonstruieren. Die beiden Journalisten arbeiten darin heraus, dass beide Seiten Details zurechtgebogen oder verschwiegen haben.

Schließlich beginnt direkt nach den Vorfällen das Räderwerk des Kalten Krieges zu mahlen. Auf Seiten der DDR spricht man reichlich plump von einem "feigen Mord" betrunkener Bundesgrenzschützer an einem heldenhaften Beschützer der DDR-Grenze.
In Westdeutschland ist dagegen von "Notwehr" die Rede. Wie andere Zeitungen auch, veröffentlicht die Rhön- und Saalepost in Bad Neustadt am 22. August 1962 die Entführungsversion, einen Versuch, den der Entführer mit seinem Leben bezahlt habe.

Polizei und Staatsanwaltschaft im Westen halten die übereinstimmenden Aussagen der BGS-Beamten für glaubhaft, dass sie das Gebiet der DDR nicht betreten und in Notwehr gehandelt hätten. Das Ermittlungsverfahren gegen sie wird zwei Monate später offiziell eingestellt.
In der DDR wird Rudi Arnstadt als Märtyrer glorifiziert
Im Osten dagegen wird Rudi Arnstadt als Märtyrer für die gute Sache glorifiziert. Pompöse Trauerfeiern werden organisiert. Der Ehrenhain in Wiesenfeld und Denkmäler in Geisa und Erfurt werden errichtet. Dutzende Arbeitsbrigaden, Einheiten der Grenztruppen, Schulen und Freizeitheime tragen seinen Namen, in Meiningen wird das Stadion nach ihm benannt. An den Jahrestagen seines Todes werden Erinnerungsveranstaltungen abgehalten.

Ein DDR-Gericht verurteilt den Todesschützen zu 25 Jahren Haft. Allerdings erfolgt das Urteil ohne einen Angeklagten, nicht einmal sein Name ist bekannt. Um ihn vor möglichen Anschlägen zu schützen, hält die Westseite die Identität Hans Plüschkes - offensichtlich erfolgreich - geheim.
Todesschütze Hans Plüschke trägt aus Furcht vor Racheakten eine Waffe
Plüschke selbst verlässt den BGS und gründet ein Taxiunternehmen im nahen Hünfeld. Aus Furcht vor Racheakten trägt er eine Waffe, falls sein Geheimnis doch noch gelüftet wird.
Dazu kommt es nach der Wende. Damals beginnt erneut die juristische Aufarbeitung der Todesfälle an der Grenze und auch des Todes von Rudi Arnstadt. Allerdings werden die Verfahren in diesem Fall bald wieder eingestellt. Mit nicht überzeugenden Begründungen, wie die Journalisten Schönfelder und Erices kritisieren. Ein Anwalt und ehemaliger Stasi-Offizier, der die Tochter von Rudi Arnstadt in einem Verfahren gegen den Todesschützen vertritt, erhält 1996 Akteneinsicht. Dort findet sich auch der Name Hans Plüschke.

Allerdings hat sich Plüschke bereits vorher in einem Fernsehmagazin und einem Zeitungsinterview geoutet. Sein Gesicht ist auch 1997 anlässlich des 35. Jahrestags des fatalen Grenzzwischenfalls im Hessischen Fernsehen zu sehen. Dabei erklärte Plüschke, den tödlichen Schuss auf Rudi Arnstadt abgegeben zu haben. Er berichtet auch von Ängsten um sich und seine Kinder.
Am 15. März 1998 wird Hans Plüschke erschossen neben seinem Taxi gefunden
Sieben Monate später, am 15. März 1998, wird Hans Plüschke 70 Meter von seinem Taxi entfernt tot auf der Straße zwischen Hünfeld und Rasdorf gefunden. Keine zehn Kilometer von der Stelle entfernt, an der er mehr als 35 Jahre zuvor die Schüsse auf den DDR-Hauptmann abgegeben hat. Wie Arnstadt auch, wurde er durch einen Schuss im Bereich des rechten Auges getötet. Dass es kein Raubmord war, belegen die unangetasteten Tageseinnahmen in seinem Auto. Eine Gedenktafel seiner Kameraden in der Nähe des Tatortes erinnert noch heute an den Mord.

Der Fall sorgt, besonders wegen des möglichen Zusammenhangs mit dem tödlichen Zwischenfall an der damaligen Grenze, für enormes Aufsehen. Es dauert nicht lange und in verschiedenen Medien werden Spekulationen laut, dass bei dem Mord alte Kameraden oder Stasi-Seilschaften am Werk waren.
Es gibt auch gegenteilige Behauptungen. Auf Internetseiten mit einer möglichen Nähe zur früheren Stasi, wird unterstellt, "der Westen" habe mit Plüschke einen "unbequemen Zeugen" ausschalten wollen. Bewiesen wurde bislang allerdings nichts.
Die Ermittlungen der Polizei bleiben erfolglos
Auch wenn sie in den Folgejahren mehrfach wieder aufgenommen wurden, die Ermittlungen der Polizei bleiben erfolglos. Die Tat wird nicht aufgeklärt, ein Mörder nicht gefasst.
Das hat sich bis heute nicht geändert. "Neue Erkenntnisse in dem Ermittlungsverfahren zum Nachteil des Herrn Plüschke liegen nicht vor", teilt Patrick Liesching von der Staatsanwaltschaft Fulda auf Anfrage dieser Redaktion mit. Das gelte auch für die Frage "nach belastbaren Hinweisen für eine Verbindung mit der Erschießung des NVA-Offiziers Arnstadt".
Am Todestag von Rudi Arnstadt besuchen Kameraden den Ehrenhein
Auch wenn die Gebäude der Grenztruppen in Wiesenfeld inzwischen abgerissen wurden, der Gedenkstein mit Namen, Geburts- und Todesdatum für Rudi Arnstadt steht noch efeuumrankt am Ortsende des kleinen Rhöndorfs. Der Satz, dass er "von Banditen des BGS ermordet" wurde, ist inzwischen entfernt worden.
An seinem Todestag besuchen noch immer seine Kameraden den Ehrenhain, organisiert von einer Kameradschaft "Florian Geyer", sagt Ortsteilbürgermeister Michael Kehl. Manchmal komme ein Bus, manchmal kämen auch zwei Busse. Dann werde der Gedenkstein geschmückt und vom Gelände her seien Reden oder das Lied vom kleinen Trompeter zu hören.
Auch wenn der Ehrenhain nicht von der Gemeinde gepflegt werde und das Thema Rudi Arnstadt im Dorf kaum noch eine Bedeutung spiele, sollte er doch erhalten bleiben, sagt Kehl. Es sei ein Ort der Erinnerung und Besinnung für alle Opfer der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. Jedes dieser Opfer sei eines zu viel gewesen.
Literatur zum Thema (teils nur antiquarisch zu erhalten )
Böckel, Herbert: Deutsche Grenzgeschichten. Von Grenzern, Opfern, Tätern und der Stasi.
Gießen: Selbstverlag, 2018
Böckel, Herbert: Der zweifache Tod im Schatten der Grenze, 2012
Böckel, Herbert: Grenzerfahrungen. Der kalte Kleinkrieg an einer heißen Grenze, Berichte und Erlebnisse eines "West-Grenzers". Parzellers Buchverlag, Fulda, 2009
Es gibt offensichtlich Ewiggestrige, die selbst nach vielen Jahrzehnten die Unmenschlichkeit des DDR-Systems immer noch gerne in Abrede stellen.