"Der vermaledeite Becher kippt! Wo ist die dritte Murmel? Der Stift fällt runter!" Meine Anfangseuphorie ist verflogen, der Abend fortgeschritten. Angespannt lese ich ein zweites Mal die Anweisungen zur Station "Hausarbeit", versuche mit Stiften Brücken über Becher zu bauen, in die ich kurz zuvor anleitungsgemäß Tücher stopfte – alles ohne direkt darauf zu schauen, spiegelverkehrt: "So eine sinnlose Aufgabenstellung!"
Es ist die fünfte Station des Demenz-Parcours, die ich an diesem Abend durchlaufe. Sonja Schirber, eine von drei Vorsitzenden beim TSV Unsleben, schmunzelt. Sie begleitet mich an den Punkt, den im echten Leben keiner erreichen möchte.
Der Parcours will Angehörige und Pflegepersonal sensibilisieren
Der Moment, in dem scheinbar Einfaches nicht mehr gelingt und Frust wütend macht. Wenn man an Grenzen stößt. Nicht einmal, sondern immer wieder. Der Punkt, an dem nach und nach die Welt, das Außen unverständlich wird und das Ich zerfließt. Beim Demenz-Parcours von Hands-on Dementia haben Menschen ohne Demenz die Möglichkeit, sich am Beispiel typischer Alltagssituationen in Menschen mit Demenz hineinzuversetzen. So sollen etwa pflegende Angehörige, aber auch Pflegepersonal für den Umgang mit Erkrankten sensibilisiert werden.
In der Jahn-Halle des TSV Unsleben können Interessierte noch bis Mittwoch, 26. Oktober, zu den Öffnungszeiten kostenlos den beschriebenen Demenz-Parcours durchlaufen. Zur Verfügung gestellt wurde der Kurs von der Fachstelle für pflegende Angehörige in Würzburg. Schirber und sechs weitere Ehrenamtliche des TSV Unsleben führen durch das Projekt.
13 Stationen mit alltäglichen Herausforderungen
In den insgesamt 13 Stationen geht es um alltägliche Herausforderungen: vom morgendlichen Anziehen über den Einkauf auf dem Markt bis zum Abendessen und Schlafengehen. Die Teilnehmenden begleiten die fiktive Erna Müller, die an Demenz leidet. An jeder Station gibt es eine Broschüre, die Hintergründe und Begriffe erläutert.
In der ersten Station streife ich Arbeitshandschuhe über. Mit den Handschuhen die Knöpfe eines Kittelschürz schließen, lautet die Challenge. Kein leichtes Unterfangen! Aber zumindest im Schonraum Demenz-Parcours eine durchaus amüsante Gaudi. Stopp – ist Lachen an dieser Stelle nicht respektlos? Ist Humor angebracht? Ist er, entscheiden wir. Weil Humor am Ende alle entlastet, Betroffene und Angehörige.
Letztlich bin ich trotzdem froh, dass der Kittel kurz darauf geschlossen ist. Demente Menschen erleben diese kleine Erfolgsmomente eben oft nicht. Häufig können sie zielgerichtete Bewegungen nicht mehr geordnet ausführen. Apraxie heißt diese neurologische Störung im Fachjargon.
Eine weitere Übung konzentriert sich auf das Thema Wortfindungsstörungen. Wie fühlt es sich an, wenn man Begriffe nicht mehr versteht, sich Worte im Kopf verdrehen, ein Eigenleben entwickeln oder Dinge plötzlich keinen Namen mehr haben? Die Audiodatei gibt einen ersten Eindruck von der entsprechenden Übung im Demenz-Parcours.
Grundlegender als der Verlust körperlicher Fähigkeiten ist für mich das Thema geistige Verwirrtheit. Den Weg nach Hause nicht mehr zu finden, die Einkaufsliste nicht mehr verstehen – diese Übungen greifen tiefer. Erst recht, wenn man die Konsequenzen überdenkt.
Emotionale Ausnahmemomente im Leben mit Dementen
"Wer Geschwindigkeiten nicht einschätzen kann, sollte auch nicht Auto fahren", erzählt Schirber. Sie muss es wissen. Hat sie doch im eigenen familiären Umfeld mit Demenz zu kämpfen. "Das ist der schwierigste Moment: Wenn du als Angehöriger handeln und entscheiden musst", erzählt sie. Der Moment, in dem sie Führerschein und Fahrzeugschlüssel an sich nahm. Die Freiheiten des anderen einschränken, um den dementen Menschen und sein Umfeld zu schützen. "Das schlechte Gewissen, die Vorwürfe", es waren emotionale Ausnahmesituationen wie diese, die sie veranlassten Hilfe zu suchen.
In Bad Kissingen stieß sie damals zufällig auf den Demenz-Parcours. Er war ihr persönliches Aha-Moment. "Ich kam raus und war erschüttert und betroffen." Mitgenommen haben sie die typischen Beispiel-Kommentare Angehöriger im Begleitmaterial. In denen hat sie sich wiedererkannt: "Mama, früher warst du so ordentlich. Räum doch mal auf!", steht da beispielsweise. Ertappt, aber zugleich erleichtert war Schirber, als sie das las. "Ich hab plötzlich erkannt, ich bin nicht allein. Da draußen kämpfen so viele mit den gleichen Probleme." Schirber will andere ermutigen, auch Unterstützung zu suchen. "Habt Mut!"
Warum ein Sportheim der richtige Ort für den Parcours ist
Warum aber ein Demenz-Parcours im Sportheim? Zunächst einmal hat die Vorsitzende dort Mitstreiter, die das Projekt mit ihr gemeinsam stemmen. In Schirbers Augen gibt es für einen Demenz-Parcous aber auch sonst keinen besseren Ort. Weil Geist und Körper zusammengehören, findet sie.
"Wir müssen nicht alle Stationen durchlaufen", sagt Schirber, als die Eindrücke gegen Ende des Abends überhand nehmen. Entlastend zu wissen: "Ich kann die Situation verlassen. Ich kann aussteigen." Ein Blick durchs Schlüsselloch ins Leben dementer Menschen – mehr ist er nicht, der Demenz-Parcours. Kurz darauf – ich drehe den Autoschlüssel im Schloss, um in mein Leben zurückzufahren – schaudert's mich: Ein Blick durchs Schlüsselloch ins Leben Dementer ist's – nicht weniger.
Die Öffnungszeiten des Demenz-Parcours
Freitag, 21. Oktober: 14 bis 16 Uhr
Samstag, 22. Oktober, und Sonntag, 23. Oktober: 11 bis 16 Uhr
Montag, 24. Oktober, bis Mittwoch, 26. Oktober: 10 bis 12 Uhr