Der schnöde Alltag steckt voller Poesie. Davon sind die Hamburger Künstlerin Viola Livera und mit ihr Annette Roggatz, stellvertretende Vorsitzende des Bad Neustädter Kunstvereins, überzeugt. Die Eisverkäuferin, die Bäckersfrau, der Friseur – sie alle sind auf ihre Art Dichter und Denker. "Du musst nur buddeln!", sagt Livera. Plötzlich begegne man in Gesprächen Lebensweisheiten, Gedichtzeilen und Sätzen aus Liebesbriefen.
2010 zog Livera – ihres Zeichens Schauspielerin, Regisseurin, Autorin und Poetin – erstmals mit einem Mikrofon bewaffnet los, damals noch durch Hamburg und suchte im Alltag den, wie sie es nennt, "Schöngeist". Aus ihrer Recherche entwickelte sich das Poesie- und Kunst-Projekt "Straße der Poesie", das sie in den Folgejahren mit wechselnden Akteuren in Hamburg, Rendsburg, Bremen, Weimar, Paris und Marseille umsetzte.
Poesie im Alltag: weg von verstaubten Bücherregalen und hinaus auf die Straße
Ziel des Projekts sei es, "die Poesie im Alltag für jeden Mann und jede Frau neu zum Blühen zu bringen und die Lust am eigenen Dichten zu fördern", so Livera: "Raus aus verstaubten Bücherregalen, raus aus Literaturpalästen, hinaus auf die Straße, dort, wo wir dem Nachbarn begegnen, den Liebsten treffen, die Familie zusammenkommt, den Fremden mit in unsere Mitte nehmen." Corona habe den poetischen Straßenzügen allerdings ein vorläufiges Ende beschert.
Der Liebe wegen lebt die Künstlerin Livera inzwischen nicht mehr ausschließlich in Hamburg, sondern teilweise auch in Oberelsbach in der Rhön. Über ein Kunstprojekt in Münnerstadt kam sie mit dem Bad Neustädter Kunstverein und schließlich mit der Stadt Bad Neustadt in Kontakt. Bad "Neu"-stadt habe ihr Mut gemacht, dass es Zeit für einen "Neu"-Start des Projekts "Straße der Poesie" sei, erzählt Livera auf Anfrage dieser Redaktion.
Eine Wäscheleine voller Poesiekopfkissen soll Bad Neustadts Hohnstraße beleben
In der jüngsten Stadtratssitzung hatte Bad Neustadts Bürgermeister Michael Werner angekündigt, dass in der Bad Neustädter Hohnstraße "eine Straße der Poesie zum Leben erweckt" werden solle. Stadtbaumeister Michael Wehner stellte die Eckpunkte vor: Ziel sei es, "Girlanden aus gestalteten Kopfkissen auf Grundlage poetischer Worte der Bürger und Geschäftsleute über die Hohnstraße" zu hängen. Für mindestens zwei Wochen sollen die "Poesiekopfkissen" in der so geschaffenen "Galerie im öffentlichen Raum" bewundert werden können. Befestigt werden die Kissenbezüge an den Stahlseilen der Weihnachtsbeleuchtung.
Der Ablauf ist folgendermaßen geplant: Ab diesen Sonntag, berichtet Roggatz, geht Livera gemeinsam mit Künstlern des Bad Neustädter Kunstvereins in der Hohnstraße auf poetische Spurensuche. Zwei Wochen lang sollen im Rahmen von Einzelgesprächen Passanten, Cafébesucher, Anwohner, Geschäftsinhaber und -mitarbeiter interviewt werden. Involviert werden sollen auch Schülerinnen und Schüler der FOS Bad Neustadt.
Kunstverein Bad Neustadt holt Schülerinnen und Schüler der FOS Bad Neustadt ins Projekt
In einer zweiten Phase, die ebenfalls etwa zwei Wochen in Anspruch nimmt, werden die gesammelten poetischen Wortschätze kunstvoll auf Kopfkissenbezüge geschrieben und gemalt. Am liebsten, verrät Livera, verwende sie für ihre Projekte ausrangierte, alte Kopfkissen "mit viel Traumenergie", die so "uralt" seien wie Sprache und Poesie selbst.
Die so gestalteten Kissenhüllen werden dann am Mittwoch, 10. Juli, rechtzeitig vor Beginn der Donnerstagskonzerte und des Stadtlaufs, vom Bauhof Bad Neustadt wie Wäschestücke an einer Wäscheleine aufgespannt und quer über die Hohnstraße gehängt. Auch ein Poesiefest ist angedacht, in dessen Rahmen die gesammelten Gedichte und Texte, musikalisch umrahmt, vorgelesen werden sollen.
Was die Straße der Poesie in Bad Neustadt bewirken möchte
Die Kosten des Projekts beziffert Roggatz auf Nachfrage mit rund 14.500 Euro. Diese würden allerdings zu einem Großteil über ehrenamtliches Engagement und Eigenleistungen seitens der Mitglieder des Kunstvereins "erarbeitet". Das Projekt werde mit 1000 Euro über EU-Mittel, Glücksfall ist eine Leader-Förderung des Kunstvereins, gefördert. Weitere Fördermittel - in Summe 3300 Euro - kommen laut Roggatz über die Kleinprojekteförderung des Landkreises Rhön-Grabfeld, die Sparkassen-Stiftung, die VR-Bank, die Stadt Bad Neustadt und das Stadtmarketing.
Annette Roggatz vom Kunstverein hofft, dass das Projekt dazu beitrage, "den stärkenden Gehalt von Sprache", die sich oft nur noch darin erschöpfe, Schwierigkeiten und Katastrophen zu beschreiben, wachzurufen. Als Aufgabe der Künstler sieht sie es, den Befragten ein "Gefühl von Selbstwirksamkeit" und den Anwohnern, Gewerbetreibenden und Passanten im Straßenzug "ein Gefühl von Gemeinschaft und Identität" zu vermitteln. Betreten Menschen ab Mitte Juli die öffentliche Galerie "Hohnstraße" stelle sich angesichts der wehenden Poesie-Kissen im besten Fall ein Gefühl von "Weite und Leichtigkeit" ein, so Roggatz' Hoffnung.