
"Alles auf!" So beginnt Egon Bauß den historischen Unterricht im Fränkischen Freilandmuseum in Fladungen. Dann klappern die Bänke und knarrt der Fußboden im alten Schulhaus des Museums. "Die Besucher sind zu Beginn immer etwas irritiert und fragen, ob sie jetzt wirklich aufstehen müssen", erzählt er. In seiner Rolle als Dorflehrer lässt Bauß die Museumsgäste dann so lange aufstehen und sich setzen, bis die alten Bänke beim Aufstehen nicht mehr zu hören sind. "Das lernen die Leute immer ganz schnell", erzählt er lachend.

Die Grundschule feiert 2019 und 2020 ihren 100. Geburtstag: 1919 wurde in der Weimarer Reichsverfassung eine für alle gemeinsame Grundschule als Basis für das mittlere und höhere Schulwesen beschlossen, 1920 wurde dann das Grundschulgesetz verabschiedet. Dass plötzlich alle Kinder auf eine Grundschule gingen, kam einer Revolution gleich, erklärt Heinrich Hacker, Sammlungs- und Ausstellungsleiter im Freilandmuseum. "Vorher war die Schule nach Ständen aufgeteilt: Die Adeligen und reichen Bürgerkinder gingen auf Privatschulen oder hatten Lehrer, die zu ihnen nach Hause kamen." Die ärmeren Kinder konnten oft gar nicht zu Schule gehen, weil sie als Arbeitskräfte gebraucht wurden.
Ganze Klasse wurde wie ein Schüler behandelt
100 Jahre später gibt es die gemeinsame Grundschule immer noch für alle Kinder, an den pädagogischen Konzepten hat sich aber einiges verändert. Das hat Egon Bauß am eigenen Leib erfahren – ab 1958 als Schüler, ab 1979 als Lehrer in Fladungen und Mellrichstadt, zuletzt als Rektor der Mittelschule Mellrichstadt. Seit einem Jahr ist nun Pensionär.

"Auch als ich meine Lehrerausbildung begonnen habe, galt noch die Devise, dass man die ganze Klasse wie einen Schüler behandelt", erinnert er sich. "Der Erstklässler war der Erstklässler, nicht der Hans oder der Peter." Heute sei das zum Glück anders und jeder Schüler werde mit seinen Stärken und Schwächen einzeln betrachtet.
Sogenannte Jahrgangsgemischte Klassen sind heute wieder im Kommen, zehn gibt es in diesem Schuljahr im Landkreis. Vor 100 Jahren war das der Standard: Oft saßen mindestens zwei Klassen, manchmal sogar vier in einem Klassenraum. "Mancherorts wurden die Schüler auch in mehreren Schichten unterrichtet, die Älteren morgens, die Jüngeren am Nachmittag", so Hacker. Die älteren Kinder konnten dann den Rest des Tages in der Landwirtschaft helfen.
Hohe Anzahl an Fehltagen

In der Erntezeit sind viele Kinder gar nicht erst zur Schule gekommen. "Wenn die Eltern um ihre Existenz kämpfen mussten, dann war die Bildung der Kinder natürlich keine Priorität für sie", erklärt Hacker. Regelmäßig seien die Kinder zu spät gekommen – weil sie keine Uhr besaßen. "Auch Sitzenbleiben kam viel häufiger vor als heute." Zu den "gesunden" Fehltagen wegen der Ernte kamen nämlich viel mehr Krankheitstage als heute. "Man muss bedenken, dass die Kindersterblichkeit vor 100 Jahren noch sehr hoch war, auch im Grundschulalter", erklärt Hacker.
Das alte Schulhaus im Museum stammt aus Krausenbach im Landkreis Aschaffenburg – und aus Krausenbach besitzt das Museum auch eine Art Klassenbuch: Jeder Schüler hat darin seine Seite, auf der seine Schulnoten für jedes Jahr notiert wurden. Unter "Bemerkungen" steht dort, ob das Kind krank war oder die Klasse wiederholen musste und Notizen zum Betragen. "Hat Neigung zum Lügen" steht da zum Beispiel bei einem Schüler, oder auch "frech, dumm und faul".
Lehrer war abhängig von Pfarrer und Bürgermeister
Der Lehrer hatte damals einen schweren Stand, erklärt Hacker: "Die Kirche hatte die Oberaufsicht über die Schule, der Pfarrer war dem Lehrer also vorgesetzt." Darüber hinaus war er vom Bürgermeister und dem Wohlwollen der Gemeinde abhängig – denn gut bezahlt war der Job nicht. Auch als Gemeindeschreiber, Chorleiter oder Organist mussten die Lehrer oft einspringen. Dass der Lehrer auch im Schulhaus wohnte, war damals üblich.

Das Museum besitzt einen Brief aus dem Jahr 1860, in dem der Krausenbacher Lehrer um Versetzung bittet: Er halte es in "bayerisch Sibirien" nicht länger aus, schreibt er, und schildert, wie er nach dem regulären Unterricht noch kilometerweit durch den Schnee stapfen muss, um die Kinder des Försters und des Schäfers zu unterrichten.
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Egon Bauß hat dagegen immer gern als Lehrer gearbeitet, sagt er. Seinen historischen Unterricht passt er an die Besucher an: "Viele Gäste sind aus meiner Generation oder älter, die interessieren sich besonders für die Zeit zwischen den Weltkriegen", beobachtet er. Thema seiner Unterrichtsstunden sind etwa Schreibschrift oder Heimatkunde. "Meine Großmutter, die 1901 geboren wurde, hat zum Beispiel die Rhöner Ortschaften als Reim auswendig lernen müssen", erzählt er. "Die Menschen kamen ja aus ihren Dörfern kaum raus."
Im Video: Egon Bauß stellt die Rhöner Ortschaften vor – verstehen Sie den Reim?
Auch der Rhöner Dialekt ist Thema im Unterricht: "Wenn der Lehrer frisch aus der Ausbildung aus Würzburg in die Rhön kam, musste er ja auch erstmal ,Deutsch' lernen, um die Fladunger zu verstehen", sagt er lachend.
Wenn er andeutet, wie früher das Strafmaß war, sorgt das bei den Besuchern für Staunen: Zu Beginn des Unterrichts kontrolliert er die Kleidung und Fingernägel seiner "Schüler", mahnt lackierte Nägel und zerrissene Hosen an, und wer unruhig ist, der muss sich in die Ecke stellen. "Es ist auch schon vorgekommen, dass Eltern gesagt haben: ,Das lassen wir uns nicht gefallen' – und aus dem Unterricht gegangen sind."
Wenn Bauß heute noch einmal wählen könnte, würde er wieder Lehrer werden. "Ich bin immer gern in die Schule gegangen – als Schüler und als Lehrer."