
Ein dunkles Kapitel in der Geschichte der unterfränkischen Christusträger Bruderschaft hat jetzt den Weg in die Öffentlichkeit gefunden. In einer Pressekonferenz hat Prior Gerd Maier an diesem Donnerstag zusammen mit dem früheren Superintendenten Martin Henker eine Erklärung zu dem jetzt veröffentlichten Bericht abgegeben. Die evangelische Gemeinschaft aus Triefenstein (Lkr. Main-Spessart) hatte eine Gruppe von Expertinnen und Experten beauftragt, die Missbrauchsfälle um den ehemaligen Prior Otto Friedrich aufzuarbeiten.
Der 99 Seiten umfassende Bericht zu den Missbrauchsfällen um den 2018 verstorbenen Prior offenbart, dass sich in der Bruderschaft über Jahrzehnte Fälle von geistlichem und sexuellem Missbrauch ereignet haben. Friedrich soll demnach bereits zu Gründungszeit der Bruderschaft in den 1960er Jahren und anschließend mehr als drei Jahrzehnte lang mindestens acht Mitglieder der Bruderschaft sexuell missbraucht haben.
Scham und Überforderung bei den Brüdern
Darunter soll mindestens ein Bruder gewesen sein, der zum Tatzeitpunkt minderjährig war. "Die Anzahl der Versuche liegt mit Sicherheit aber erheblich höher", heißt es im Bericht. Gegen Friedrich kam es weder zu einer Anzeige durch die Bruderschaft, noch zu staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen. In einem Abschiedsbrief zu seinem Rücktritt hatte Friedrich selbst 1996 geschrieben: "Nach wenigen Jahren hat mich meine Vergangenheit eingeholt und ich wurde rückfällig."
Für viele Brüder sei die Bekanntmachung dieser Vorfälle ein Schock gewesen, sagt Christian Hauter, ein langjähriger Prior der Bruderschaft: "Wir Brüder waren völlig unvorbereitet, als wir erfuhren, dass unser Prior Mitbrüder sexuell missbraucht hat." Jahrelang sei intern kaum über die damaligen Vorfälle gesprochen worden – aus Scham und Überforderung, sagt Hauter.
Bericht über Missbrauch beruht auf Gesprächen mit Betroffenen
"Als dann 2020 junge Familien bei der Gemeinschaft aufgetaucht sind, die unser Erbe weiterführen wollten, wussten wir, dass wir sie über unsere dunkle Vergangenheit informieren müssen, ohne zu beschönigen und ohne uns zu verteidigen", erklärt der frühere Prior. Noch im selben Jahr habe man in eigener Initiative Experten damit beauftragt, einen unabhängigen Bericht über die Missbrauchsfälle zu verfassen. Es sei darum gegangen "zuzugeben, was geschehen ist", sagt Hauter.
Im Sommer 2021 begann die sogenannte "Spurgruppe" mit Richterin Christa Dreiseitel, der Traumatherapeutin Ilse Hellmann, dem Psychotherapeuten Sebastian Küffner und dem Leipziger Theologen Martin Henker ihre Arbeit. Sie nahmen Kontakt zu insgesamt 51 ehemaligen und heutigen Mitgliedern der Bruderschaft auf. Grundlage ihres jetzt veröffentlichten Berichts sind vor allem 15 Gespräche mit Betroffenen sowie zwei schriftliche Äußerungen.
Staatsanwaltschaft ermittelte in zwei Fällen
Die Erkenntnisse der Gruppe lassen laut Henker den Schluss zu, dass sich über viele Jahre ein ganzes Missbrauchssystem in der Bruderschaft etabliert hatte. Aus dem Bericht geht hervor, dass offenbar nicht nur Friedrich sexuellen Missbrauch begangen hat, sondern es sich dabei um mindestens vier frühere Mitglieder innerhalb der Bruderschaft handeln muss. Die Staatsanwaltschaft hatte in der Vergangenheit zwar in zwei Fällen ermittelt, die Verfahren waren jedoch wieder eingestellt worden. Der Grund hierfür geht aus dem Bericht nicht hervor.
Tief erschüttert zeigte sich der Prior der Christusträger Bruderschaft Gerd Maier vor allem darüber, dass die sexuellen Übergriffe oft nach dem Abendmahl und der Seelsorge stattgefunden haben: "Hier fand Heiliges und Missbrauch nebeneinander statt." Laut dem Bericht war bis zu seinem Rücktritt nur Friedrich selbst für die Seelsorge zuständig. Durch dieses "Seelsorgeprivileg" seien alle persönlichen Informationen von allen Brüdern ausschließlich bei dem Prior zusammengekommen. Daraus habe sich eine "absolute Machtstellung" für ihn ergeben, sagt Maier.
Nach Jahrzehnten des Schweigens: Gemeinschaft stellt sich der Öffentlichkeit
Dass die Triefensteiner Bruderschaft erst nach so vielen Jahrzehnten damit in die Öffentlichkeit geht, hing laut Hauter auch mit der Sorge zusammen, nicht ausreichend Kraft zu haben, sich dem öffentlich zu stellen: "Wir identifizieren uns nicht damit, aber wir werden jetzt vielleicht damit identifiziert." Nach 27 Jahren des Schweigens sei dies für die Gemeinschaft der Bruch eines Tabus gewesen.
Bei der Vorstellung des Berichts durch die Expertinnen und Experten hätten jedoch alle 27 Brüder der Gemeinschaft anerkannt, dass der Weg in die Öffentlichkeit wichtig und unumgänglich sei, sagt Hauter.
Unabhängige Ombudsstelle für Betroffene eingerichtet
Inzwischen wurde eine unabhängige Ombudsstelle eingerichtet, an die sich Betroffene von sexuellem Missbrauch oder deren Angehörige wenden können. Außerdem wurde die Juristin Christa Dreiseitel als Präventionsbeauftragte hinzugezogen. Ziel sei es, dass ein unabhängiger Beraterstab die Bruderschaft bei der weiteren Aufarbeitung und Prävention unterstützt. Der Gemeinschaft zu Folge müssen alle Brüder und Mitarbeitenden eine Selbstverpflichtung unterschreiben, nach der jede sexuelle Handlung der Leitung der Ombudsstelle gemeldet wird. Über eine finanzielle Entschädigung der Betroffenen wird laut Hauter nachgedacht.