
17.437 Kinder wurden im vergangenen Jahr in Deutschland sexuell missbraucht . Das macht am Tag 48 Mädchen und Jungen. Und das ist nur die Zahl der Fälle, die die Polizei kennt und die so in der Kriminalstatistik der Bundesregierung 2022 eingeflossen ist. Blickt man auf die unterfränkische Kriminalstatistik, so muss man glauben: Wir leben auf einer Insel der Glückseligkeit. Kein einziger Fall von sexuellem Kindesmissbrauch. Wird hier etwas verheimlicht? Nein, sagt Johannes Streib. Er ist Kriminalrat beim Polizeipräsidium in Unterfranken. „In unserer Region gab es im vergangenen Jahr 220 Fälle, davon 14 im Landkreis Bad Kissingen .“ Warum die Einzelfälle erst auf Nachfrage veröffentlicht werden, erklärt er im Interview. Einer der Gründe: Die Identifizierbarkeit von Opfer und Beschuldigten.
Herr Streib, warum machen Sie ein Geheimnis um die Anzahl der Fälle, in denen die Kripo Unterfranken im Bereich sexueller Missbrauch von Kindern ermittelt?

Wir machen kein Geheimnis darum! Die Fälle gehen im Punkt „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ in der Kriminalstatistik auf. Die Kriminalstatistik umfasst sehr viele einzelne Straftatbestände , die im Rahmen der Berichterstattung nicht ausdifferenziert berichtet werden, jedoch grundsätzlich öffentlich zugänglich sind.
Aber damit kann sich die Gesellschaft kein Bild machen, ob oder wie prekär die Situation im Landkreis ist. Denn Medien können dann naturgemäß keine Zahlen und keine anonymisierten aktuellen Ermittlungen berichten. Und wir alle wissen: Was außerhalb unseres Fokus liegt, verschwindet aus dem Blickfeld. Dabei ist das ein drängendes Problem – ein Verbrechen, das Kinder ihr Leben lang prägt.
Zunächst muss ich festhalten: Die Fälle, in denen wir ermitteln, sind von der Zahl her nicht gleich mit den Urteilen, die dann auch fallen. In einigen Fällen muss durch die Justiz das Verfahren eingestellt werden, weil der Vorwurf des Kindes nicht nachgewiesen werden kann oder richtig gewesen ist.
Woran liegt das?
Wir glauben Kindern grundsätzlich, vor allem, wenn wir Eltern sind. Das Problem kann aber in einzelnen Fällen auch die kindliche Fantasie sein. Aber auch, dass die Kinder nach Bekanntwerden eines möglichen Übergriffs oft zuerst von den Eltern befragt werden. Das Thema ist dramatisch, es ist sensibel – und nicht selten leiten Eltern ihre Kinder unbewusst im Gespräch.
Sie meinen, sie stellen Suggestivfragen oder beeinflussen und manipulieren das Kind?
Ja, wir erleben das. Nach der Erstbefragung durch die Eltern tun sich Polizei , Psychologen und Richter schwer. Deshalb kann ich Ihnen nicht sagen, ob wir 2022 tatsächlich 220 Missbrauchsfälle hatten oder einige durch suggestive Befragungen entstanden sind. Die polizeiliche Aufklärungsquote lag bei 95 Prozent. Bei den 14 Fällen in Bad Kissingen lag sie bei 100 Prozent. Was jedoch nicht heißt, dass sich das auch in der Verurteilungsstatistik niederschlagen wird. Man müsste nach den Urteilen beide Statistiken nebeneinanderlegen um zu sehen, welche Fälle tatsächliche Fälle waren.
Sie führen die Fälle also nicht auf, weil Sie sich nicht sicher sein können?
Das ist zumindest gerade am Anfang der Ermittlungen einer der Gründe. Die Polizei möchte niemanden an den Pranger stellen. Und deshalb müssen wir immer abwägen: Kann ich den speziellen Einzelfall an die Öffentlichkeit bringen? Wir hatten einen Fall, bei dem wir auf Zeugenaussagen angewiesen waren. Jedoch: Um konkrete Hinweise zu bekommen, hätten wir ins Detail gehen müssen, um mehr über den Täter zu erfahren – der allerdings wäre dann sofort identifizierbar gewesen. So mussten wir den Vorfall stark abstrahiert berichten, dass er keine ortsbezogenen Rückschlüsse mehr aufwies. In den vergleichsweise eher seltenen Fällen allerdings, wie beispielsweise bei Fällen, in denen der Täter etwa Lehrer oder ein Vereinstrainer ist, gehen wir an die Öffentlichkeit. Zum einen, um diese mit der möglichen Transparenz mit Informationen zum Sachstand zu versorgen, aber auch um etwaigen Falschbehauptungen vorzubeugen. Somit ist für uns das Thema Transparenz sehr bedeutsam. Aber nicht in jeder Fallkonstellation gleichsam möglich. Ein eingehendes Beispiel für eine breite Öffentlichkeit ist hier etwa der Fall, in dem gegen einen Logopäden aus dem Raum Würzburg ermittelt wurde. Hier fanden wiederholt Informations- und auch Betreuungsveranstaltungen für Personen aus dem familiären Umfeld von Geschädigten statt. Es geht uns aber auch darum, Menschen die Verbrechensfurcht zu nehmen.
Wie meinen Sie das?
Wir hatten einen Fall, in dem eine Frau eine überfallartige Vergewaltigung auf dem Nachhauseweg angezeigt hat. Da sind wir in die Öffentlichkeit gegangen, wir brauchten Zeugen. Nur, was macht das denn mit den Zeitungsleserinnen? Sie werden Angst vor der Ecke bekommen, in der es passiert sein soll – und sie werden allgemein ein unbehagliches Gefühl bekommen. In diesem Fall hatte das vermeintliche Opfer die Tat erfunden – und wir haben Frauen verunsichert.
Ist das denn der richtige Weg? Dass es derlei Taten gibt, ist bekannt. Dass es sie in jeder Stadt gibt, auch. Der Ort ist dann doch eher austauschbar.
Ja, das ist die Frage. Meine persönliche Auffassung: Wenn wir die Meldung über das richtige Medium transportieren – also keins, das Opfern oder Tätern hinterherjagt - , dann bringen wir das Thema präsent in die Gesellschaft. Und das ist wichtig, da sich dadurch ein Gefahrenradar entwickelt. Was wir als Polizei aber nicht wollen: dass die Bevölkerung durch Sachverhalte, die noch nicht eindeutig geklärt sind, verunsichert oder hypersensibilisiert wird.
Nun ja: In Unterfranken passiert es ja tatsächlich, dass an zwei von drei Tagen ein sexueller Missbrauch geschieht – das ist schon eine große Zahl.
Ja, an zwei von drei Tagen wird ein sexueller Missbrauch von Kindern angezeigt. Aber es gibt auch noch einen weiteren Grund: In 75 Prozent der Fälle hat der Täter eine enge Bindung zum Opfer, als Angehöriger oder als enger Freund der Familie. Wir haben nun die Sachlage, dass beide – vor allem Opfer, aber auch Tatverdächtiger – auch ein Schutzinteresse haben. Viele Opfer werden retraumatisiert, wenn sie ihren Fall, und sei er auch noch so anonymisiert, in den Medien lesen. Und was ist mit dem vermeintlichen Täter, der identifiziert werden könnte – und bei dem sich dann herausstellt, er war es nicht? Das passiert ja, wie ich es Ihnen eingangs geschildert habe. Deshalb veröffentlichen wir nicht jeden gemeldeten sexuellen Missbrauch.
Die Zahl der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung ist in Deutschland von 2011 bis 2022 von 47.078 auf 118.196 Fälle gestiegen (Quelle: Statista). Woran liegt das?
Das liegt am geänderten Anzeigeverhalten der Betroffenen, am verschärften Sexualstrafrecht und auch an den sehr stark angestiegenen Fallzahlen im Phänomenbereich der Kinderpornografie. Da hat sich der Fokus verschoben. Hinter jedem Kinderporno-Bild steht der Missbrauch eines Kindes. Da stellt sich für uns die Frage: Ist es ein neuer Missbrauch oder wurde das Bild x-fach geteilt? Seit über einem Jahr haben wir im Präsidium bei den Kriminalpolizeiinspektionen dafür einen besonderen Arbeitsbereich. Denn diese Bilder verteilen sich rasend schnell – das ist anders als früher, als es den Porno unter der Ladentheke gab oder VHS-Kassetten getauscht wurden.
Ja, in die Schlagzeilen kommen immer wieder Durchsuchungen im Zusammenhang mit Kinderpornografiefällen, da ist die Transparenz gegeben.
Wir veröffentlichen, wenn wir in konzertierten Aktionen an einem Tag eine Vielzahl an Wohnungen durchsuchen, damit versuchen wir auch, das Thema in der Gesellschaft präsent zu halten, ebenso wie beispielsweise auch durch unsere Präventionskampagnen an Schulen. Jedoch beim Einzelfall müssen wir als Polizei über Opferschutz, die Identifizierbarkeit von Beschuldigten und die Verbrechensfurcht der anderen nachdenken.
Was sollen Eltern nun also tun, wenn ihr Kind ihnen offenbart, dass es vermutlich Opfer eines Missbrauchs wurde?
Das Kind bestätigen, dass es gut war, es zu sagen. Und dann so schnell wie möglich zur Kriminalpolizei. Und das lieber fünfmal zu viel als einmal zu wenig. Sagen Sie Ihrem Kind, dass Sie das Gesagte sehr interessiert, dass Sie es aber für besser halten, wenn gleich ein Profi, sprich die Polizei, das auch hört. Wenn das Kind dann von Beamten oder Beamtinnen befragt wurde, können auch wir sichergehen, dass es zu keiner Suggestivbefragung gekommen ist. Zudem kann man sich auch immer an Hilfeeinrichtungen wie beispielsweise Wildwasser oder SEFRA wenden. Aktuell gibt es darüber hinaus Überlegungen im Bereich Würzburg hinsichtlich der Einrichtung eines Childhood-Hauses.
Childhood-Haus – das ist was bitte?
Das ist ein Ort nach Beispielen aus Schweden. In der Einrichtung arbeiten unterschiedliche Fachrichtungen zusammen, also beispielsweise Polizei, Rechtsmediziner, um eventuelle Spuren sicherzustellen, Psychologen und Gynäkologen. So können wir das Kind entlasten, denn es muss nur einmal von allen relevanten Stellen vernommen werden. Aus Gründen des Beweiswertes der Aussage des Kindes vor Gericht sollte in meinen Augen immer die Polizei die erste Anlaufstelle sein, bei der das Opfer erzählt. Die Kontakte zu Beratungsstellen und Opferhilfeeinrichtungen stellen meine Kolleginnen und Kollegen grundsätzlich auch immer her.
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