Es ist der Sommer 1966: Während sich weltpolitisch die USA und die Sowjetunion darauf einigen, das Weltall von Nuklear-Waffen freizuhalten, aus London der Modetrend "Minirock" herüberschwappt und Deutschland einen Sommer unter dem Regenschirm verbringt, eröffnen sich für zwei 14-jährige Schüler aus dem Raum Marktheidenfeld überraschend neue Perspektiven.
Eltern bestimmen den zukünftigen Beruf
"Ich habe euch mal an der Realschule Marktheidenfeld angemeldet." Dieser Satz, den Volksschullehrer Günter Fries fast nebenbei mehreren Schülern im Bischbrunner Schulhaus mitteilte, ist Erhard Leimeister immer noch im Gedächtnis. Nach acht Jahren Volksschule sollte er eigentlich Fliesenleger lernen. So hatten es seine Eltern für ihn beschlossen. Auch für die 14-jährige Lucia Albert im vier Kilometer entfernten Karbach sollte es nach dem Schulabschluss im Büro bei Braun weitergehen.
"Dass genau in diesem Jahr die Realschule Marktheidenfeld eröffnet wurde - das war eine Riesenchance für uns", erzählen beide rund 56 Jahre später. 69 Jahre sind beide mittlerweile. Haben ihre Schulzeit, aber auch ihren beruflichen Lebensweg - er als gehobener Verwaltungsbeamter, sie als Krankenschwester und Sozialtherapeutin - bereits hinter sich. Haben Familien gegründet und ihre Wohnorte Bischbrunn und Karbach gegen Stadelhofen und Steinfeld getauscht.
Dass sie an diesem Oktobertag miteinander nach Marktheidenfeld gekommen sind und von ihrer Anfangszeit an der Realschule Marktheidenfeld erzählen, hat einen Grund: Im Juli 1970 verließen sie diese als erster Abschluss-Jahrgang. 2020 hätte sich das Ereignis zum 50. Mal gejährt. "Wir haben die Feier wegen Corona zwei Jahre verschoben", erzählt Lucia Stamm, die damals noch Albert hieß. 2022 im Oktober war es dann so weit. 35 von ehemals 91 Mitschülerinnen und Mitschülern kamen zum Klassentreffen in die "Schöne Aussicht" nach Marktheidenfeld.
"Wir haben uns teilweise 50 Jahre lang nicht gesehen", erzählen Stamm und Leimeister von dem besonderen Wiedersehen. Vom Westerwald bis nach Wolfsburg bis in die USA habe es die Leute verschlagen. Damals, zum Schulstart 1966, kamen sie aus dem gesamten Altlandkreis Marktheidenfeld. "Wir waren damals drei Klassen: eine reine Mädchenklasse, eine Jungenklasse und eine gemischte Klasse mit den Evangelischen", erinnert sich Lucia Stamm. Auch die Altersspanne zwischen den Mitschülern war groß, denn sie umfasste die Jahrgänge 50 bis 54. "Das lag daran, dass die Schüler aus drei Jahrgängen, also den 6., 7. und 8. Klassen wechseln konnten", so Leimeister. Bevor es aber überhaupt an der Schule losgehen konnte, mussten sie eine Aufnahmeprüfung bestehen. "Wir mussten einen Aufsatz schreiben. Eine erste Stresssituation", ist Lucia Stamm noch im Gedächtnis.
Neu und ungewohnt für die Schüler waren auch die vielen, fremden Lehrer: "Außer dem Pfarrer hatten wir vorher in der Volksschule in allen Stunden den Lehrer Fries", so Leimeister. Nun kam plötzlich in jeder Stunde jemand anderes. "Zu den meisten hatten wir ein gutes Verhältnis", erzählen Leimeister und Stamm. So wie zum Beispiel zur Deutsch- und Erdkundelehrerin Gudrun Schwinger, zu Chemie- und Musiklehrer Hans Michel, der auch den Chor leitete sowie zu Bio- und Erdkundelehrer Franz Kollmann. "Wir haben auch alle Lehrer zu unserer Jubiläums-Feier eingeladen", so Stamm. Wirklich kommen konnte dann allerdings nur die 87-jährige Eva-Maria Urbanetz, die damals noch unter ihrem Mädchennamen Hornung an der Schule Deutsch und Englisch unterrichtete.
"Aber alle anderen haben geantwortet und sich entschuldigt", so Stamm. So auch der damalige Konrektor Johann Hopp, mittlerweile 93-jährig, der die Schule damals eigentlich leitete, da der erste Chef im Haus, Alfons Adelberger, zugleich Landtagsabgeordneter war. "Interessanterweise können sie sich alle noch an uns erinnern", erzählt Lucia Stamm. Woran das liegt? "Wir waren halt immer die Gründer", sind sich die beiden Ex-Realschüler sicher.
Um alle Mitschüler für das Treffen zusammenzubringen, gründeten sie ein Orga-Team. Neben Stamm und Leimeister waren das Bernd Eyrich, Theo Grün, Reinhold Simet, Christa Bayer und Lothar Klühspies. "Jeder hat für seine Klasse recherchiert, Leute angemailt, angerufen, nachgehakt", so Leimeister. 2018 dann gab es einen ersten Stammtisch. "Wir wollten schauen: Wer kommt denn überhaupt?", erzählt Stamm. Nachdem die Treffen im Kleinen gut liefen, gingen sie das große Jubiläum an. Und erlebten einen großartigen Tag. Nach einer Andacht in der St. Laurentius Kirche, bei der auch den elf verstorbenen Mitschülerinnen und Mitschülern sowie Lehrern gedacht wurde, ging es in der "Schönen Aussicht" weiter. Bis ein Uhr nachts liefen die Gespräche.
Nie ins heutige Gebäude der Realschule geschafft
Worin sie sich am Ende des Abends alle einig waren: Der Besuch der Realschule damals war für sie alle ein Privileg, der Abschluss der Mittleren Reife ein Türöffner. Was sie noch besonders machte: Sie waren der erste und einzige Jahrgang, der es bis zum Schluss nicht in das heutige Gebäude der Realschule schaffte. Denn das Schulhaus befand sich damals noch im Bau und wurde erst im Oktober 1970 fertig. Bis dahin wurde der Unterricht verteilt auf die alte Schule am Markt, die Obertorschule und die Berufsschule. "Für uns hieß das damals, dass wir viel hin und herlaufen mussten", erzählt Lucia Stamm und lacht. Geschadet habe das nicht. Im Gegenteil - behauptete zumindest der damalige Landrat Albin Niklaus in der Abschluss-Schrift: "Wer unter äußeren Schwierigkeiten ein Ziel erreicht, wird oftmals auch Unzuträglichkeiten, die sich später im Berufsleben kaum vermeiden lassen, ertragen und zu meistern vermögen."